Geschwister

„Ich will, dass die Mama ihn zurück gibt!“

„Wen denn?“

„Meinen doofen Bruder!“

„Oh. Hast du ihn nicht mehr lieb?“

„Ja, schon.“

„Aber?“

„Der weint so viel. Der will immer zur Mama. Der kann gar nicht mit mir spielen. Der ist so klein. Die Mama trägt den immer rum. Der soll weg, weg, weg!“

„Das verstehe ich. Er ist so klein und kann noch gar nicht sagen, was er will und braucht. Deshalb weint er. Und er braucht dann die Mama, die ihn tröstet und mit ihm spielt. Die Mama hat dann viel weniger Zeit für dich. Das tut weh.“

„Ja, Oma! Das ist so gemein.“

„Na ja, du kannst schon sprechen und sagen, was du brauchst. Und du kannst alleine spielen. Oder dir jemanden zum Spielen suchen. Du kannst durchs Haus laufen, auf dem Spielplatz toben, zum Tanzen gehen, deine Freunde besuchen, telefonieren, im Hof spielen, mit Pauli rum laufen, alleine essen und dir selbst was zum Trinken holen. Du kannst sogar schon beim Einkaufen alles selbst finden und in den Wagen legen. All das kann dein kleiner Bruder noch nicht. All das muss er erst noch lernen.“

„Hmmm, er kann auch nicht jetzt hier runter kommen und uns stören.“

„Stimmt.“

„Er ist noch ganz klein. Und ich bin schon groß.“

„Stimmt.“

„Die Mama hat mich lieb.“

„Ja, aber sowas von.“

„Die Mama hat auch meinen Bruder lieb.“

„Ja natürlich.“

„Du hast mich auch lieb, Oma, oder?

„Ja, klar.“

„Du hast auch meinen Bruder lieb?“

„Sicher.“

„Du hast auch die Mama lieb.“

„Ja.“

„Manchmal streitet ihr euch auch.“

„Natürlich. Wir streiten uns. Und manchmal wünsch ich sie auf den Mond. Ich habe sie trotzdem lieb und lebe gerne mit ihr zusammen.“

*KleinMadame summt vor sich hin. Kuschelt mit Pauli. Geht für eine Weile hoch. Kommt wieder.

„Oma.“

„Ja“

„Wir können ihn behalten.“

„Wen denn?“

„Meinen kleinen Bruder.“

„Okay.“

Fantasie und reale Welt

Das große Thema von Drei- bis Vierjährigen: Ich kann aktiv die Welt verändern. Wo sind da meine Grenzen? Dieses "aktiv verändern können" hat für Kinder in diesem Alter etwas total Magisches. Das Kind rennt zum Beispiel laufend rum und will zaubern können - im Sinne von: Du bist jetzt so wie ich will! Betrifft Dinge ebenso wie Personen. Das klappt halt nur nicht. In den Märchen und Erzählungen funktioniert es aber. Und es hat ja auch schon gelernt, dass es mit einem bestimmten Verhalten eine bestimmte Reaktion hervor rufen kann. Bei Dingen und Personen. Der Kampf um das Verständnis von Imagination/Fantasie und realer Welt ist nun ein heftiger und bleibt bei vielen Menschen ja auch ein lebenslanger.
Und wenn das nicht so klappt, wie es sich das Kind vorstellt, dann wird es wütend und verzweifelt. Es braucht in dieser Zeit keine Vorhaltungen und keine von oben herab Erklärungen. Es will in seinem Versuch zu verstehen ernst genommen werden.
Es ist anstrengend für das Kind und schmerzvoll. Da bleibt nur liebevolle, empathische Begleitung und das Signal: Ich verstehe deinen Kampf! 

Regulierung

Von oben höre ich KleinMadame wütend schreien und heulen. Irgendwas läuft nicht so, wie sie will. Drei, vier Minuten später kommt sie die Treppe runter, in mein Zimmer rein, setzt sich in den Sessel neben meinen Schreibtisch, ihr Schlafpferdchen ganz fest im Arm und schluchzt und heult zum Herz erweichen. Ich spreche sie sanft und zugewandt an:

„Erzähl mir mal was los ist.“

„Die Ma seufsheul, will schluchssnief bkalrzfachnichtbklwqurtz, heul, Brille, scjezwolsz. Nerven mich, sckheösoeut, heul.“

„Oh, ich habe jetzt gar nichts verstanden. Hol mal tief Luft und dann erzähl es mir nochmal.“

Taschentuch reichend. Kind schnäuzt, wischt sich das Gesicht ab und atmet etwas langsamer.

„Die Mama ist soooo gemein. Die will gar nicht die Brille ins Schlafzimmer legen. Ich will aber die Brille im Schlafzimmer, aber die Mama legt sie auf die Kommode ins Wohnzimmer. Ich will das aber nicht.“

„Aha. Du willst die Brille im Schlafzimmer und die Mama will sie im Wohnzimmer. Das ärgert dich.“

„Jaaaaaaa. Das ist so gemein.“

Kind beruhigt sich langsam. Atmet ruhiger.

„Wem gehört denn die Brille?“

„Der Mama.“

Kind kuschelt sich tiefer in den Sessel. Weint nicht mehr.

„Ich nehme jetzt dein Schlafpferchen und lege es zu mir ins Bett.“

„Oma, das geht doch nicht, das ist doch mein Pferdchen! Du brauchst doch keins zum Einschlafen. Das wäre ja komisch, wenn du mein Pferdchen im Bett hättest.“

„Stimmt. Das wäre sehr komisch.“

Kind kichert. Schaut sich um. Denkt nach.

„Oma, hast du noch den Stein gegen Albträume?“

„Klar.“

„Kann ich den mitnehmen? Jetzt?“

„Sicher. Aber wieder zurück bringen, wenn du ihn nicht mehr brauchst.“

Wir holen den Stein, plaudern noch ein wenig über Steine allgemein und sie zieht quietschfidel wieder ab.

Das ist nur ein kleines Beispiel dafür, wie sehr es Kindern bei der Affektregulierung hilft, wenn da noch ein anderer Mensch ist. So können sie raus aus der Situation und sich selbst beruhigen. KleinMadame nutzt dies anscheinend sehr bewusst. Sie will nicht Recht haben in diesen Momenten, meint, sie sucht keinen Beistand in der Sache. Sie will auch nicht getröstet werden. Also, anfassen und kuscheln würde gar nichts bringen. Im Gegenteil. Sie will nur ernst genommen werden.

Und nein, ich weiß nicht, wieso das Brillending so ein Drama bei dem Kind auslösen konnte. Ich nehme an, da stand vieles andere dahinter und hat sich an diesem seltsamen Teil festgemacht. Ich muss es auch nicht verstehen, denn für sie war es dramatisch und verletzend. Das gilt es anzunehmen und einfach so stehen zu lassen.

Sie macht das irgendwie ganz toll 😊

*Anmerkung
Es erinnert mich an meine Arbeit als Therapeutin. Da geht es auch nicht ums Bewerten oder ums Wegreden. Was schmerzt, schmerzt. Und manchmal langt es einfach, dass jemand zuhört und es einfach so stehen lassen kann. Und manchmal hilft es, wenn man das Gegenüber und die Situation sicher einschätzen kann, dass man einen kleinen Hinweis in den Raum wirft und nicht weiter bohrt, weil man sich sicher ist, dass das Gegenüber schon selbst damit arbeiten kann und wird.