„Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.“
Paragraph 1631, Absatz 2 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB)
Wer Kinder in irgendeiner Form vergewaltigt,
demütigt, misshandelt, erniedrigt, benutzt,
ist kein „Perverser“, sondern ein Gewalttäter.
Ein Gewalttäter mit enormer krimineller Energie.
Mir erscheint diese sprachliche Differenzierung notwendig um den strafrechtlichen Tatbestand eindeutiger
hervorzuheben.
In Deutschland werden u.a. folgende Gewaltdelikte in der
Polizeilichen Kriminalstatistik unter dem Begriff Gewaltkriminalität
zusammengefasst: Mord (§ 211 StGB), Totschlag (§ 212 StGB), gefährliche und
schwere Körperverletzung (§ 224, § 226 StGB), Körperverletzung mit Todesfolge
(§ 227 StGB), Vergewaltigung und schwere sexuelle Nötigung (§ 177, § 178 StGB).
Aus Sicht der Kinder geht es immer um Machtausübung und
Gewalt.
Hören wir endlich auf es zu beschönigen oder mit
Begrifflichkeiten weichzuspülen.
*Anmerkung
Den Körper zu verletzten ohne die Seele zu beschädigen
erscheint mir unmöglich. Die Seele zu verletzen ohne den Körper zu beschädigen
erscheint mir ebenso unmöglich. Körperverletzung umfasst in meiner Welt die
Einheit von Körper und Seele.
Für mich immer noch einer der besten Texte zum Thema „Emotionale
Gewalt gegen Kinder“ -> http://www.vachss.de/mission/dispatches/disp_9408_a.html
Heidrun Müller
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Missbrauch in der
katholischen Kirche
Holt Euch die Archive!
Heinrich Schmitz 6.
Oktober 2018
Die Studie über den sexuellen Missbrauch in der Katholischen
Kirche brachte schon einiges ans Licht. Das darf aber nicht das Ende, sondern
es muss der Anfang staatlicher Ermittlungen sein.
Im Zeitraum von 1946 bis 2014 ermittelte die Studie 3677
überwiegend männliche Minderjährige als Opfer sexueller Vergehen durch
Kleriker. 1670 von diesen werden der Taten beschuldigt.
Dabei konnten die Wissenschaftler nicht einmal wirklich
wissenschaftlich arbeiten, weil ihnen der direkte Zugang zu den Archiven verwehrt
war. Ihre Informationen bekamen sie lediglich indirekt über die Beantwortung
von Fragebögen. Gut möglich, dass in den Archiven der Gemeinden und Bistümer
noch weitere Sauereien zu finden wären.
Keine Immunität
Ganz erstaunlich und auch nicht nachvollziehbar ist die
Tatsache, dass es bisher noch keine Großrazzia der Staatsanwaltschaften gegeben
hat. Manch einer vermutet, die Kirche sei aufgrund von Kirchenrecht berechtigt,
diese Straftaten selbst – sozusagen unter Ausschluss der Öffentlichkeit – aufzuklären.
Aber das stimmt nicht. Das staatliche Strafrecht gilt ohne Wenn und Aber auch
für die Kirche und deren „Würdenträger“. Kirchen genießen keine Immunität.
Anhaltspunkte für einen Anfangsverdacht des sexuellen
Missbrauchs sowie der organisierten Strafvereitelung gibt es bereits durch die
Studie. Bei einem Anfangsverdacht hat die Staatsanwaltschaft Ermittlungen
aufzunehmen. So steht das in § 152 Abs. 2 StPO.
2) Sie ist, soweit
nicht gesetzlich ein anderes bestimmt ist, verpflichtet, wegen aller verfolgbaren
Straftaten einzuschreiten, sofern zureichende tatsächliche Anhaltspunkte
vorliegen.
Ein auf konkreten Tatsachen beruhender Anfangsverdacht als
Voraussetzung für die strafprozessualen Maßnahmen liegt nach der Rechtsprechung
des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG, 08.03.2004 – 2 BvR 27/04) dann vor, wenn
nach kriminalistischer Erfahrung die Möglichkeit einer verfolgbaren Straftat
gegeben ist.
Nun mag man den Begriff der »kriminalistischen
Erfahrungssätze« kritisch sehen, es dürfte allerdings schon Erfahrung
entsprechen, dass dann, wenn den Wissenschaftlern aus den Archiven Angaben zu
diesen Straftaten gemacht wurden, in diesen Archiven auch deutliche Hinweise
auf entsprechende, schwerste Straftaten zu finden sind.
Im Falle des Autoherstellers VW kam es zu mehreren
Durchsuchungen im Zusammenhang mit der Manipulation von Abgaswerten, warum kam
es nicht zu massenhaften Durchsuchungen der Kirchenarchive?
Der Einwand der Justizministerin Kristina Barley in einem
Interview mit der Zeit
Man braucht etwas Greifbares.
Wenn die Ermittler einen Anhaltspunkt haben, dann müssen sie sogar die Öffnung
von Archiven, die Herausgabe von Unterlagen verlangen, dann können sie auch
Durchsuchungsbeschlüsse erwirken. Und die Kirche kann sich nicht verweigern. Es
gibt keine Geheimarchive im Rechtsstaat.
erweckt den Eindruck, es gebe nichts Greifbares. Was
brauchen denn die Staatsanwaltschaften mehr Greifbares, als die von der Kirche
selbst in Auftrag gegebene Studie, die den massenhaften Missbrauch bereits
belegt?
Sicherstellen
Nun gilt es doch nur noch, sich die Akten zu verschaffen,
bevor sie dem Schredder zum Opfer fallen oder versehentlich in der
Altpapiersammlung der Messdiener verschwinden. Dass es bereits zu einer
großzügigen Vernichtung von Material gekommen sein muss, hat die Studie
ebenfalls ergeben. Warum lässt man also das Material in Täterhand oder
jedenfalls in einem Umfeld, in dem die Strafvereitelung als barmherziges Werk
zu gelten scheint?
Nach Angaben der Wissenschaftler gibt es keinen Anlass zu
der Annahme,
dass es sich beim
sexuellen Missbrauch Minderjähriger durch Kleriker der katholischen Kirche um
eine in der Vergangenheit abgeschlossene und mittlerweile überwundene Thematik
handelt.
Stellen Sie sich mal ein Hotel vor, in dem seit Jahren
Kinder missbraucht wurden und wo anzunehmen ist, dass dies immer noch der Fall
ist; würde die Polizei da nicht vom Dach bis in den Keller alles auf den Kopf
stellen, um belastendes Material zu finden?
Ich bin kein Freund von Verschwörungstheorien, aber hier
kann ich mir nicht vorstellen, dass die Tatsache, dass es noch immer keine
Razzien gegeben hat, wirklich mit einem zu wenig greifbaren Anfangsverdacht zu
tun haben kann. In Chile ist so etwas ja auch möglich.
Es scheinen hier unausgesprochene Tabus und Berührungsängste
der Ermittlungsbehörden gegenüber einer seit 2000 Jahren weltweit aktiven
Organisation zu bestehen, die einfach nicht nachvollziehbar sind. Es reicht mir
nicht, wenn die deutschen Bischöfe sich gegenüber der Öffentlichkeit „tief
erschüttert und betroffen“ zeigen und es reicht auch nicht, wenn der Kirche die
Aufklärung selbst überlassen wird.
Im Rahmen der Studie wurden 38.000 Personal- und Handakten
aus 27 deutschen Diözesen untersucht und ausgewertet. Angezeigt wurde nur ein
verschwindend geringer Anteil der Täter. Selbst die, die sich nur einem
kirchenrechtlichen Verfahren stellen mussten, erhielten eher lächerliche
Sanktionen und wurden häufig einfach in andere Gemeinden versetzt, ohne dass
diese auch nur etwas davon erfuhren, wer ihnen da in den Beichtstuhl gesetzt
wurde.
Ich bin selbst Katholik, war Messdiener und Gruppenleiter und
könnte mich übergeben über das, was da in meiner Kirche abgelaufen ist und
weiter läuft. Gerade eine Institution, die sich als „Una sancta“, also als die
eine heilige Kirche bezeichnet, kann doch nicht ernsthaft solche
Menschenrechtsverletzungen zulassen, vertuschen und damit die Straftäter vor
einer gerechten Strafe schützen. Ich kann jeden verstehen, der wegen dieser
unsäglichen Sauerei aus der Kirche ausgetreten ist. Und das waren nicht nur
Menschen, die plötzlich nicht mehr an Gott glauben, ganz im Gegenteil. Lasst
Euch nicht einreden, Ihr wäret nun von Gott verlassen, nur weil ihr dem
versauten Bodenpersonal den Rücken gekehrt und ihm Eure Steuern entzogen habt.
Ich kann Euch gut verstehen. Als gläubiger Mensch, der von Humanisten eh als
Vollidiot angesehen wird, stelle ich mir vor, wie Jesus diesen Drecksladen mit
heiligem Zorn zerlegt hätte. Hätte er den Bischöfen, die die Missbraucher
gedeckt haben, nicht ihre bunten Klamotten vom Leib gerissen und die
Scheinheiligen zum Teufel gejagt?
Hätte er nicht gesagt
Es steht geschrieben (Jesaja 56,7): »Mein Haus soll ein
Bethaus sein«; ihr aber habt es zur Räuberhöhle gemacht.“?
Mag sein, dass er den Tätern gegenüber Barmherzigkeit
gezeigt hätte, aber mit Sicherheit erst, nachdem sie ihrer gerechten
staatlichen Strafe zugeführt worden wären und ihre Sünden aufrichtig bereut
hätten. Nun gut, ich träume hier etwas. Jesus war noch nicht wieder da und wann
er endlich kommt, steht in den Sternen.
Ich bin aber nicht nur Katholik, sondern als Anwalt auch ein
sogenanntes Organ der Rechtspflege. Und als solches erlebe ich tagtäglich, mit
welch gewaltiger Macht unser Justizapparat auftreten kann, wenn er denn will.
Da wird mal eben eine Hausdurchsuchung bei einer mehrköpfigen Familie
durchgeführt und sämtliche Telekommunikationsgeräte von Vater, Mutter und
Kindern werden beschlagnahmt, weil angeblich von einem dieser Geräte ein halbes
Jahr zuvor ein beleidigender Facebookpost abgesetzt worden sein soll. Da werden
Betriebe durchsucht, weil der Verdacht besteht, dass jemand nicht den vollen
Mindestlohn erhält, weil die Putzfrau tatsächlich 4 und nicht nur 3 Stunden
gearbeitet hat. Alles rechtlich in Ordnung. Aber dann sieht man eben auch Nazis
durch die Straßen marschieren, die Hitlergrüße zeigen und „Juden ins Gas“
brüllen, ohne dass sie dabei von der umher stehenden Staatsgewalt belästigt
werden. Und man sieht harmlose Demonstrantinnen, die im Hambacher Forst wie ein
Rollbraten zusammengeschnürt werden, um einem Großkonzern die Rodung eines
uralten Waldes zu ermöglichen.
Rollkommando
Was man nie sieht, ist wie ein Rollkommando eine
Kirchenverwaltung in den frühen Morgenstunden umstellt und kistenweise Akten
herausschleppt und Sexualverbecher in Handschellen abführt. Im ein oder anderen
Pfarrhaus dürfte man auch auf Kinderpornos stoßen, jede Wette.
Ich will mir in der heiligen Messe nicht vorstellen müssen,
dass der Priester mir den Leib Christi gibt, während er an den Leib des
Ministranten denkt, den er vor der Messe in der Sakristei noch mit seinen
Wichsgriffeln befingert hat. Ich will mir auch nicht vorstellen, dass
Kommunionkinder in die Finger von pädosexuellen Straftätern geraten oder zu
Priestern in den Beichtstuhl steigen müssen, die sie intensiv nach ihrer
Fleischeslust befragen. Würde ein beliebiger anderer Bürger so etwas machen,
wären Sie doch auch umgehend bei der Polizei, oder?
Mein Großvater, ein frommer Mann, sagte einmal über die
Jesuiten, deren Ordenskürzel SJ ist, diese Buchstaben stünden für „schläächte
Jonge“, also schlechte Jungen. Da mag er bei einigen Recht gehabt haben.
Ich verlange, als Katholik, als Anwalt, als Vater und als
ganz gewöhnlicher Bürger, dass die Ermittlungsbehörden sich nicht davor
drücken, bei der Kirche ihre Arbeit zu machen. Dass sie jetzt offensiv an die
Ermittlungsarbeit gehen. Dass sie Hausdurchsuchungen auch in Kirchen
durchführen, Material beschlagnahmen und die Täter anklagen.
Von der Kirche erwarte ich mehr als fromme Sprüche und
scheinheilige Entschuldigungen. Sie muss umfänglich mit den Ermittlungsbehörden
kooperieren, für restlose Aufklärung sorgen, den Opfern anständige finanzielle
Entschädigungen bezahlen und darüber nachdenken, wieviel diese Häufung von
übelsten Sexualdelikten mit der Sexualmoral der Kirche zu tun hat. Ich
verlange, dass die Kirche sich ehrlich macht und bekennt, dass der Zölibat
nicht jedermanns Sache ist und die, die mit der unterdrückten Sexualität ihre
Probleme haben, gleichwohl ihr Priesteramt nicht verlieren müssen oder halt
andere Positionen in der Kirche erhalten und nicht wie z.B. Pfarrer Hartmann
aus Bamberg wie ein toller Hund vom Hof gejagt werden.
Wenn sie das nicht ziemlich zügig hinbekommt, wird sie den
bereits zu Recht verlorenen Anspruch, als moralische Instanz zu gelten und
Einfluss auf das Leben der Gläubigen zu haben, nicht mehr zurückbekommen. Eine
anständige moralische Insolvenz wäre Voraussetzung für eine neue
Glaubwürdigkeit. Sonst wird sie nach 2000 Jahren als Institution erledigt sein.
Meinetwegen können sie auch zusätzlich dafür beten. Und das wäre dann auch gut
so.
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Kinder haben Recht auf gewaltfreie Erziehung
Kinder haben Recht auf gewaltfreie Erziehung
Autor:
JuraForum.de-Redaktion, verfasst am 22.08.2016
Manche Eltern glauben, dass zumindest ein „kleiner Klaps“
erlaubt ist, wenn sich ihre Kinder danebenbenehmen. Doch stimmt das wirklich?
Das erfahren Sie in diesem Ratgeber.
Prügelstrafe: Dürfen
Eltern ihre Kinder schlagen
Eltern haben es manchmal nicht leicht mit ihrem Nachwuchs.
Dies gilt besonders dann, wenn sie von Mitmenschen darauf hingewiesen werden,
dass die Anwendung der Prügelstrafe angeblich „noch keinem Kind geschadet“ hat.
Doch wenn Eltern glauben, dass ihnen deshalb ein Recht auf
„angemessene Züchtigung“ bei ihren Kindern zugesteht, dann irren sie gewaltig.
Kinder haben Recht
auf gewaltfreie Erziehung
Seit dem Jahr 2000 dürfen Eltern ihre Kinder nicht mehr
schlagen. Dies hat der Gesetzgeber in der Vorschrift von § 1631 Abs. 2 BGB
klargestellt. Hierin heißt es wörtlich: „Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie
Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere
entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.“
Diese Vorschrift bezieht sich übrigens nicht nur auf die
Prügelstrafe in Form der körperlichen Züchtigung. Auch eine Ohrfeige und ein
kleiner Klaps auf den Po zu erzieherischen Zwecken sind verboten. Daneben
untersagt diese Vorschrift auch andere Formen der Gewalt. Hierunter fällt etwa
eine entwürdigende Behandlung des Kindes. Diese kommt etwa dran in Betracht,
wenn Eltern ihr Kind bewusst zu Hause oder in der Schule erniedrigen.
Schlagende Eltern
machen sich strafbar
Wenn Eltern ihre Kinder schlagen, können sie sich strafbar
gemacht haben. Hier kommt zunächst einmal eine Bestrafung wegen vorsätzlicher
Körperverletzung nach § 223 StGB in Betracht. Dies gilt bereits bei einer
Ohrfeige oder einem Klaps und erst recht, wenn Kinder mit der flachen Hand
verprügelt werden. Eltern können sich heutzutage nicht mehr auf ihr
„Züchtigungsrecht“ als Gewohnheitsrecht berufen. Dieses wurde nur früher als
Rechtfertigungsgrund anerkannt. Aufgrund der Vorschrift des § 1631 BGB ist
dieses Gewohnheitsrecht jedoch auch im Strafrecht außer Kraft gesetzt worden.
Eltern müssen hier mit Geldstrafe oder einer Freiheitsstrafe von bis zu fünf
Jahren rechnen.
Wenn Eltern dabei besonders massiv vorgehen - und ihre
Kinder womöglich noch mit dem Gürtel verprügeln oder Verbrennungen an der
Herdplatte zufügen, kommt eine Misshandlung von Schutzbefohlenen nach § 225
StGB in Betracht. Insbesondere die zuletzt genannten Beispiele sind als „rohe
Misshandlung“ im Sinne dieser Vorschrift anzusehen.
In einem solchen Fall müssen sich schlagende Eltern zu Recht
auf einen Aufenthalt im Gefängnis einstellen. Denn das Gesetz sieht hier als
Sanktion ausschließlich die Verhängung von Freiheitsstrafe von sechs Monaten
bis zu 10 Jahren vor. Sofern dem Kind hierdurch die Gefahr einer schweren
Gesundheitsschädigung oder sogar des Todes droht, müssen sie mit einer
Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr bis zu 15 Jahren rechnen. Sie kommen
lediglich dann etwas günstiger weg, wenn das Gericht von einem minder schweren
Fall ausgeht. Aber das ist in der Regel nicht der Fall, um Eltern vor
derartigen Erziehungsmethoden genügend abzuschrecken.
Gleichzeitig kommt hier das Vorliegen einer gefährlichen
Körperverletzung nach § 224 StGB in Betracht. Diese liegt etwa dann vor, wenn
eine körperliche Misshandlung mittels einer Waffe oder einem gefährlichen
Werkzeug begangen wird. Hier müssen Eltern normalerweise mit einer
Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren rechnen.
Strafbarkeit wegen
entwürdigender Behandlung ihrer Kinder
Eine Strafbarkeit der Eltern kommt unter Umständen auch dann
infrage, wenn sie zu anderen entwürdigenden Erziehungsmethoden greifen, wie
stundenlangem Einsperren oder gar Essen vorenthalten.
Bedenklich sind aber auch verbale Entgleisungen. Solche
liegen etwa dann vor, wenn Eltern ihr Kind gelegentlich als „dumme Sau“
bezeichnen, weil es sich ungeschickt angestellt hat. Hierin liegt eine
Beleidigung gem. § 185 StGB. Vor allem Eltern, die ihr Kind öfter so
beschimpfen, sollten sich darüber Gedanken machen, dass sie ihrem Kind damit
schnell schwere psychische Verletzungen zufügen, so dass es kein eigenes
Selbstvertrauen entwickeln kann.
Auch das
nichtschlagende Elternteil kann sich strafbar machen
Wenn ein Elternteil die Prügelstrafe anwendet, kann sich
übrigens auch das andere Elternteil strafbar machen. Das gilt vor allem, wenn
es selbst bei schweren Misshandlungen nicht eingreift und diese möglicherweise
sogar für richtig erachtet. Hier kommt je nach Situation eventuell eine
Bestrafung als Mittäter, wegen Beihilfe oder Anstiftung - etwa bezüglich einer
Misshandlung von Schutzbefohlenen - in Betracht. Eine Beihilfe kommt etwa dann
infrage, wenn etwa die Mutter das Kind festhält und der Vater die Prügelstrafe
„vollstreckt“. Im Übrigen kommt eventuell auch eine Bestrafung des passiven
Elternteils wegen unterlassener Hilfeleistung nach § 323 c StGB infrage.
Eventuell Entziehung
des elterlichen Sorgerechtes möglich
Wenn Eltern ihre Kinder schlagen, kann eventuell auch das
Familiengericht eingreifen. Das setzt voraus, dass dadurch das Wohl des Kindes
gefährdet wird. Dies kann etwa dazu führen, dass den Eltern im schlimmsten Fall
ihr Sorgerecht entzogen wird. Rechtsgrundlage hierfür ist die Vorschrift von §
1666 BGB.
Fazit:
Eltern sollten daher ihre Kinder nicht schlagen. Dies
bedeutet keinesfalls, dass Eltern bei ihnen alles durchgehen und einen
laissez-faire Erziehungsstil praktizieren sollen. So etwa wäre im Hinblick auf
die Entwicklung ihrer Kinder sogar bedenklich. Wichtig ist vielmehr, dass
Kindern in vernünftigem Maße Grenzen gesetzt und Wertvorstellungen vermittelt
werden. Hierbei können und sollten Eltern auch konsequent sein und dürfen ihr
Kind notfalls mit energischen Worten zurechtweisen.
Autor: Harald Büring
(Juraforum.de)
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„130 Kinder getötet, 52 Tötungsversuche, 3900 Kinder körperlich misshandelt, sexuelle Gewalt gegen 14.000. Alles im Jahr 2015. Und das sind nur die offiziellen Zahlen.“
„130 Kinder getötet, 52 Tötungsversuche, 3900 Kinder körperlich misshandelt, sexuelle Gewalt gegen 14.000. Alles im Jahr 2015. Und das sind nur die offiziellen Zahlen.“
„Oh Gott, Krieg ist so furchtbar!“
„Nein, du Dummkopf, das sind die Zahlen aus Deutschland!“
Heidrun Müller
Heidrun Müller
In Deutschland sind im vergangenen Jahr 130 Kinder getötet
worden, also durchschnittlich fast drei pro Woche.
Vier von fünf Opfern (81 Prozent) waren zum Zeitpunkt ihres
gewaltsamen Todes jünger als sechs Jahre, sehr oft sogar unter zwei Jahre alt.
Hinzu kamen 52 Tötungsversuche, wie aus der am Mittwoch in Berlin
veröffentlichten Polizeilichen Kriminalstatistik zu kindlichen Gewaltopfern
hervorgeht.
Die Zahl körperlicher Misshandlungen von Kindern sank zwar
im Vergleich zu 2014 um sechs Prozent, aber es waren immer noch mehr als 3.900
Kinder davon betroffen.
Auch bei der sexuellen Gewalt gegen Kinder wurde 2015 ein
geringfügiger Rückgang von 3,24 Prozent auf knapp 14.000 Fälle verzeichnet. Das
waren 38 betroffene Kinder pro Tag, wie der Präsident des Bundeskriminalamtes
(BKA), Holger Münch, sagte.
Es gibt ein Schweigen, das lügt, verletzt und tötet.
Emotionaler Missbrauch durch die Eltern gräbt sich tief in
die eigene Seele ein und lässt sich nur schwer entwirren. Manche Menschen
tragen diese Bürde ihr ganzes Leben lang mit sich herum, wiederholen die
selbstverletzenden Muster in eigenen Partnerschaften und geben diese in vielen
Fällen an ihre eigenen Kinder weiter.
Emotionaler Missbrauch hat oft ein scheinbar fürsorgliches,
liebevolles Gesicht. Versteckt sich hinter einem „Ich tue doch alles für dich.“
und „Ich will doch nur dein Bestes!“. Und doch steckt dahinter immer auch die
unausgesprochene Botschaft: „Sei dankbar!“, „Sei brav!“ und „Sei so, wie ich es
will und brauche!“. Ansonsten droht Liebesentzug, Bestrafung und immer der Tod
des kindlichen Ichs.
Kinder verwickeln sich, weil sie es nicht anders können und
gelernt haben, oft in Schuld und Scham. Sie reagieren mit vorauseilendem
Gehorsam, doch in ihnen gärt ein nebliges Wissen um die ihnen zugefügten
Ungerechtigkeiten. Es zerreißt sie innerlich und schreddert jeden kleinsten
Funken von Selbstgewissheit.
Die eigenen Bauchgefühle werden zum inneren Feind.
Das Leichentuch über allem aber ist das Schweigen. Das
Schweigen der Umwelt, das Schweigen der Täter, das Schweigen im Inneren.
Bindungsunfähigkeit, Nähe – Distanz Problematiken,
Abhängigkeitsverhältnisse, mangelndes Selbstbewusstsein, selbstverletzendes
Verhalten sind nur einige der möglichen Folgen.
Die natürliche Reaktion auf emotionalen Missbrauch wäre der
Zorn. Doch der ist verboten: Durch die Eltern, das soziale Umfeld und später
durch sich selbst. Es bleiben die Angst, die Scham und das Schuldgefühl und
weben ein festes Netz um jedes mögliche „Nein“, um jeden Gedanken an
Unabhängigkeit, um jeden Schritt in das eigene, selbstbestimmte Leben.
Wir können die Vergangenheit nicht ändern. Aber wir können
gemeinsam das Schweigen durchbrechen und als Erwachsene dem Schmerz, der
Traurigkeit und dem Zorn des Kindes einen sicheren Raum und eine Stimme geben.
Heidrun Müller
Sexuelle Gewalt
"Wenn überhaupt, so habe er in einem Zustand der
"Sexsomnie" gehandelt, sagte er. Also unbewusst, schlafwandlerisch,
ohne Kontrolle über sich selbst."
UND! Sie kommen damit durch!
Da geht kein Aufschrei durchs Volk, da guckt man weg, da
dreht man das Köpfchen zur Seite, da bläst man Blässchen ins Bierglas, da
wechselt man ganz schnell das Thema. Da ist man ohne Scham und unverhohlen ein
feiges Arschloch. Warum? Weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Weil man
drüber nachdenken müßte, dass das ein Faß ohne Boden sein könnte, weil es
Kreise bis in die eigenen Kreise ziehen könnte, weil man Eier in der Hose haben
müßte um aufzustehen. Weil es ja nur Kinder sind.
Den Eimer gibt es gar nicht, in den ich kotzen könnte.
Ich will nämlich gar nicht kotzen. Danach ginge es mir nämlich besser und ich
will nicht, dass es mir besser geht. Meine Übelkeit soll explodieren und alle
anstecken. Damit endlich was passiert in diesem Land und Kinder ohne Angst und
Schrecken aufwachsen können.
Und nein, es ist nicht nur das kirchliche Umfeld. Keine Illusionen
machen. Es geht tief, ganz tief bis in die privatesten Bereiche.
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Da gibt es nichts zu besprechen, zu diskutieren oder gar abzuwägen:
Es gibt keinen "gewaltfreien und
einvernehmlichen" Sex zwischen Erwachsenen und Kindern.
Kurzfassung ->
Jedwede Form von Sexualität kann nur dann einvernehmlich
sein, wenn alle Beteiligten mit den
gleichen Wörtern und Gesten das Gleiche in ihrer inneren Vorstellungswelt verbinden
können bzw. wenn es zumindest einen minimalen Konsensen über die Bedeutung und
Folgen des jeweiligen gewollten gemeinsamen Tuns gibt. Das ist bei zwei Erwachsenen schon nicht ganz
einfach, geht manchmal ganz schön in die Hose und bedarf in vielen Situationen
schon intensiverer Kommunikation. Kindliche Sexualität ist jedoch Universen
entfernt von einer erwachsenen Sexualität. Da kann es kein Einvernehmen geben,
weil es keine Begrifflichkeiten gibt, die sich auf identische oder sich auch
nur annähernden innere Bilder, Vorstellungen, Erfahrungen, Assoziationen
beziehen könnten.
In einer wie auch immer gearteten Beziehung zwischen
einem Erwachsenen und einem Kind gibt es ohne Ausnahmen ein nicht
wegzudiskutierendes Machtgefälle und ganz konkrete Abhängigkeiten. Auch wenn
diese im realen Zusammenleben nicht permanent im Vordergrund stehen, so weiß
der Erwachsene, vor allem aber auch das Kind darum. Deshalb beinhaltet Sexualität
zwischen einem Erwachsenen und einem Kind immer! Aspekte von Machtmissbrauch, Gewalt
und Erpressung.
Punkt.
Heidrun Müller
"Wenn du
nicht spurst, weißt du, was passiert"
Heidrun Müller
Misshandelte Kinder halten viele für ein
Randgruppenproblem sozial schwacher Familien. Dabei misshandeln auch Akademiker
ihre Kinder – nur verstehen sie es besser, die Gewalt zu vertuschen.
Von Anette Dowideit
Die Welt vom 08.03.2015
Akademiker achten bei den Misshandlungen ihrer Kinder
häufig darauf, dass man ihnen die Gewalt nicht nachweisen kann
Die Metzners* sind eine von diesen Berliner
Szenefamilien. Sie, Sarah, Mitte 20, macht Karriere in einer Kunstagentur und
jettet um die Welt, um bei Vernissagen in Hongkong und New York Künstler und
Galeristen zu treffen. Er, Kaspar, arbeitet in der Atelierwohnung der beiden im
Prenzlauer Berg an seinen Skulpturen, während er auf das Wunschkind aufpasst.
Sophie, neun Monate alt, bekommt nur selbst gekochten Brei, diesen Anspruch
haben die Metzners.
Die Idylle endet, als Baby Sophie per Rettungswagen ins
Krankenhaus kommt. Reglos, blaue Lippen. Der diensthabende Arzt diagnostiziert
ein "akutes Abdomen", die Bauchdecke ist wie eine Trommel gespannt.
Bei der Not-OP zeigt sich, dass der Darm des Babys eingerissen ist. Die
hinzugezogenen Gerichtsmediziner stellen fest, dass jemand Sophie mit der Faust
oder einem stumpfen Gegenstand mehrfach heftig in den Bauch geschlagen haben
muss. Die Eltern, ein sympathisches junges Paar, sagen, sie seien ebenso ratlos
wie die Ärzte. Der Fall geht ans Landeskriminalamt.
Nach dreistündiger Vernehmung bricht Kaspar Metzner
zusammen. "Ich war frustriert, weil sie schon wieder nicht frühstücken
wollte. Ich hatte ihr den Obstbrei gemacht, und sie hat den Teller
runtergeschmissen. So ging das seit Tagen", sagt er. Zehnmal, sagt er, habe
er sein Baby an diesem Tag mit voller Kraft in den Bauch geboxt. Sophie, deren
Fall die beiden Rechtsmediziner Michael Tsokos und Saskia Etzold in ihrem Buch
"Deutschland misshandelt seine Kinder" protokollierten, überlebte den
Angriff nur, weil sie schnell genug operiert wurde.
Drei Kinder sterben pro Woche an Misshandlungen
Jede Woche sterben laut polizeilicher Kriminalstatistik
in Deutschland im Schnitt drei Kinder an Misshandlungen. Mehr als 3500 wurden
2013 so schwer geschädigt, dass die Polizei einschreiten musste. Das, sagen
Soziologen und Mediziner, sei nur die sichtbare Spitze eines Eisbergs: Fast
jedes vierte Kind wird laut einer 2013 veröffentlichten Studie der Universität
Bielefeld manchmal oder regelmäßig von seinen Eltern geschlagen, wobei in
dieser Statistik Ohrfeigen ebenso erfasst sind wie heftige Misshandlungen.
Gesetzlich verboten ist beides, schon seit dem Jahr 2000.
Verprügelte, misshandelte Kinder gelten in der
öffentlichen Wahrnehmung vor allem als Randgruppenproblem – etwas, das
ausschließlich in sozial schwachen Familien und Brennpunktvierteln vorkommt. Zu
Unrecht, sagt Rainer Becker, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Kinderhilfe in
Berlin und Polizeidirektor: "Polizeilich werden zwar mehr Fälle aus
sogenannten bildungsfernen Schichten bekannt. Doch nach allem, was Soziologen
ermitteln konnten, finden die weniger drastischen Fälle, die alltägliche Gewalt
gegen Kinder, unabhängig von Bildung und Einkommen statt."
Laut der Bielefelder Studie, die von Bayer Health Care in
Auftrag gegeben wurde, sagten fast sieben Prozent der Kinder, die in sozial
durchschnittlich gestellten Familien aufwachsen, sie seien von Erwachsenen
schon so heftig geschlagen worden, dass sie blaue Flecken davon bekamen. Wo die
Grenze verläuft zwischen einem einmaligen Ausraster der Eltern aus
Überforderung und geplanter Misshandlung, damit tun Fachleute sich jedoch
extrem schwer.
Wenn Überforderung in Gewalt umschlägt
Die Klausens* aus Berlin haben selbst erfahren, wie
schnell man auch als reflektiertes, gebildetes Elternpaar in eine solche
Gewaltspirale rutschen kann. Vater Maik, Ingenieur und beruflich erfolgreich,
ist unter der Woche fast nie zu Hause. Für Mutter Mareike, Bürokauffrau, fühlt
es sich oft so an, als sei sie alleinerziehend, sagt sie. Sie muss ihren Sohn
Mirko, sechs, Einzelkind, alleine wecken, muss ihn dazu bringen, sich
rechtzeitig anzuziehen, zu frühstücken, die Zähne zu putzen – und dann auch
noch sich selbst fertig machen, um rechtzeitig im Büro zu sein.
Seit Mirko in die Schule geht, ist der Zeitdruck für
Mareike Klausen noch höher geworden. Und Mirko ist zudem ein extrem verträumtes
Kind, das oft trödelt und sie damit zur Weißglut treibt. So zumindest hat
Klausen ihre Geschichte der Beraterin in der Berliner Beratungsstelle des
Kinderschutzbundes erzählt, bei der sie vor ein paar Monaten Hilfe suchte. Die
Wut in ihr sei in den letzten Monaten einfach immer heftiger geworden, erzählte
sie, auf dieses Kind, das immer trödele und ihr damit den aufwendig
ausgeklügelten Zeitplan kaputtmachte.
Anfangs packte sie Mirko noch heftig an den Schultern, um
ihn anzutreiben. Irgendwann kamen Ohrfeigen dazu oder Schläge auf den Po, die
Arme, wo immer sie ihn gerade erwischte, wenn die Wut sie wieder übermannte.
Natürlich hatte das Folgen. Mirkos Lehrerin sagte, es sei doch nicht normal,
dass ein Sechsjähriger am frühen Morgen schon so einen Zorn in sich habe – den
er dann wiederum an anderen Kindern auslasse.
Typisch macht den Fall vor allem eines, sagt
Kinderschutzberaterin Sabine Bresche, die mit der Familie arbeitete: Dass die
Eltern überzeugt sind, dass Kind wolle sie absichtlich wütend machen. "Das
ist eine falsche Annahme", sagt Bresche. "Wir erleben immer wieder,
dass gerade in bildungsnahen Familien grundlegende Kenntnisse darüber fehlen,
zu was Kinder in welchem Alter überhaupt schon fähig sind."
Ob Eltern schlagen, hängt von Risikofaktoren ab
Überforderung – die Eltern sind vom Job gestresst und
müssen die Familie quasi en passant mit erledigen – ist eine der Hauptursachen
dafür, dass Eltern ihre eigenen Kinder schlagen, sagt die Sozialpädagogin und
Politikwissenschaftlerin Kathinka Beckmann, Professorin für
Sozialwissenschaften an der Hochschule Koblenz.
Wer in einer Stresssituation tatsächlich zuschlägt, hänge
aber von einer Reihe von Risikofaktoren ab: Wie stark vorbelastet sind die
Eltern – also sind sie selbst in der Kindheit geschlagen worden, haben sie
Probleme mit der Partnerbeziehung oder mit Krankheiten, Alkohol oder anderen
Süchten? In welchem sozialen Umfeld leben sie – ist die Mutter etwa
alleinerziehend, fehlt ein soziales Netz? Und: Welche Belastungsfaktoren bringt
das Kind mit – ist es ein Schreikind, oder hat es eine Behinderung?
"Einige dieser Faktoren kommen in jedem sozialen Milieu vor", sagt
Beckmann. "Das erklärt, warum auch in jedem Milieu geschlagen wird."
Bundesweit, schätzen Soziologen, lebten rund 80.000
Kinder in "gewaltbedrohten Verhältnissen", müssten also davor bangen,
geschlagen oder misshandelt zu . Wie viele davon aus privilegierten
Elternhäusern stammen, ist nicht bekannt. Diese seien meist "kreativ"
darin, drakonische Strafen zu entwickeln, die keine körperlichen Spuren
hinterlassen, sagt Beckmann.
Nicht nur einmal seien ihr bei ihrer Forschungsarbeit
Fälle begegnet, bei denen Eltern ihre Kinder die ganze Nacht über in kaltem
Badewasser hätten sitzen lassen, als Strafe. Bisweilen sind es extreme
Verhaltensweisen von Kindern, die darauf schließen lassen, dass sie zu Hause
misshandelt oder extrem vernachlässigt werden. So wie der vierjährige Junge,
dessen alleinerziehender Vater einen guten Job hatte, und der sich vermeintlich
gut kümmerte. Übers Wochenende ließ er seinen Sohn aber regelmäßig ganz allein
zu Hause. Der Junge fing, als Beckmann und ihre Kollegen ihn kennenlernten,
Fliegen aus der Luft und aß sie. "Er war gewöhnt, oft tagelang nichts zu
essen zu bekommen."
Es gebe Formen von Gewalt gegen Kinder, die vor allem in
privilegierten Familien vorkämen, sagt Beckmann: die Wohlstandsvernachlässigung
– auch wenn diese scheinbar mit körperlichen Misshandlungen wenig zu tun hat.
Kinder, die nie von ihren Eltern ins Bett gebracht werden, sondern immer nur
von Babysittern. Deren Mutter und Vater nie bei ihnen sind, wenn sie krank
sind. Die gleichzeitig unter hohen Leistungsansprüchen stünden.
Der Druck in der Gesellschaft steigt
Nicht nur die Angst vor Jobverlust und Leistungsdruck
führten in vielen Familien zu Gewalt gegen Kinder – auch der gesellschaftliche
Druck, als Eltern erfolgreich zu sein, sei in den vergangenen beiden
Jahrzehnten deutlich gestiegen, sagt Michael Mühlschlegel, seit 25 Jahren
Kinderarzt im baden-württembergischen Lauffen am Neckar.
"Auf den Eltern lasten heute viel höhere
Vorstellungen davon, was ihr Kind wann zu machen und zu leisten hat. Das fängt
schon in der Krabbelgruppe an, wenn die Mütter vergleichen: Wie gut schläft das
Kind? Kann es schon sitzen?" Dieser selbst gemachte Erwartungsdruck, sagt
Mühlschlegel, führe häufig dazu, dass sich innerhalb von Familien
Enttäuschungen, Frustration und Spannungen aufbauten. Dieser selbst gemachte
Erwartungsdruck entlade sich paradoxerweise in einigen Familien dann in Form
von Brutalität gegenüber den Kindern – und das, obwohl die Eltern sie doch
optimal fördern wollten.
"Es kann gut sein, dass die Familien finanziell gut
gestellt sind, die Kinder Tennis und Klavier spielen oder reiten gehen – und
trotzdem Gewalt oder Erniedrigung erdulden oder miterleben müssen", sagt
auch Sabine Böhm von der Frauenberatung Nürnberg für gewaltbetroffene Frauen und
Mädchen. Das Problem, sagt Böhm, sei gerade in privilegierten Haushalten
häufig, dass die Gewalt ein Familiengeheimnis bleibe. "Da wird häufiger
mit Einschüchterung gearbeitet: Wenn du etwas sagst, musst du am Ende noch ins
Heim." In einer Akademikerfamilie wirke ein solches Stigma als Drohung
weit mehr als in einer Familie aus einem Brennpunktviertel, wo jeder jemanden
kennt, der schon vom Jugendamt in Obhut genommen wurde, sagen
Kinderschutzexperten.
Bei Vorwürfen wird gleich der Anwalt beauftragt
Auch Barbara Mühlfeld, Kinderärztin im hessischen Bad
Homburg, hat schon den Verdacht auf körperliche Gewalt in bildungsnahen
Familien gehabt. Es gebe diese Eltern, sagt Mühlfeld, die schon in ihrer Praxis
den Kindern drohten: Wenn du jetzt nicht spurst, weißt du, was dir passiert.
"Solche Drohungen funktionieren natürlich nur dann, wenn sie in der
Vergangenheit schon wahr gemacht wurden."
Mühlfeld und auch ihr Kollege Mühlschlegel sagen, sie
sprechen die Eltern bei einem solchen Verdacht behutsam an. Das Problem bei
gebildeten Eltern sei, dass sie sich aus solchen Vorwürfen oft elegant
herauszuwinden verstünden. Oder, dass einige bei handfesten Vorwürfen gleich
einen Anwalt beauftragten, um sich zur Wehr zu setzen, sagt Mühlfeld.
Am Ende liegt es oft auch am höheren Einkommen, dass
gebildete Eltern sich besser als andere gegen den Vorwurf wehren können, ihr
Kind geschlagen oder misshandelt zu haben – sei es gegenüber Kinderarzt,
Jugendamt, Polizei oder Staatsanwaltschaft. Die Buchautoren Tsokos und Etzold
schildern das an einem Fall aus ihrer Arbeit als Gerichtsmediziner an der
Berliner Charité: Die beiden begutachteten einen neun Monate alten Säugling,
der ein Schütteltrauma erlitten hatte – eine der massivsten und
lebensbedrohlichsten Formen von Kindesmisshandlung.
Die Eltern, beide Akademiker, ließen sich von einem
befreundeten Ingenieur ein Gegengutachten erstellen. Dieser erklärte darin
anhand einer technischen Skizze, das Baby müsse seinen Kopf in einem bestimmten
Winkel gehalten haben, während es unglücklich vom Wickeltisch gefallen sei. Die
Eltern führten als Argument auch ins Feld, sie hätten sich das Baby jahrelang
gewünscht, sich sogar einer Fruchtbarkeitsbehandlung unterzogen. Am
rechtsmedizinisch festgestellten Befund, so Tsokos und Etzold, änderte das
natürlich nichts.
Trotzdem: Die Eltern wurden nicht bestraft, sondern
bekamen ihr Baby zurück, mit leicht zu erfüllenden Auflagen.
Auch die kleine Sophie aus Berlin lebt wieder bei ihren
Eltern, mit regelmäßigem Kontakt zum Jugendamt. Das Verfahren gegen ihren Vater
läuft noch.
*Namen der Familien geändert
Quelle: Artikel in Die Welt
Was Eltern Kindern antun
AUS DEM SPIEGEL AUSGABE 29/2017
Eine Rechtsmedizinerin berichtet
Die Rechtsmedizinerin Dragana Seifert untersucht
misshandelte Kinder. Sie sieht Brüche, Verbrennungen, Stiche. Die Täter sind
meistens die Eltern. Ein Gespräch über Dinge, die man kaum aussprechen kann.
Von Barbara Hardinghaus und Maik Großekathöfer
Dragana Seifert ist Oberärztin am Institut für Rechtsmedizin
des Universitätsklinikums in Hamburg, und ihre Aufgabe sei "der Nachweis
des Bösen", sagt sie. Des Bösen, das jemand einem Kind angetan hat.
Wohl kein Arzt in Deutschland sieht mehr Kinder, denen
Gewalt zugefügt wurde, als sie. Im vergangenen Jahr hat Seifert 859 Kinder
untersucht, bei denen der Verdacht bestand, der Vater, die Mutter oder eine
dritte Person habe sie misshandelt, vernachlässigt, sexuell missbraucht.
Seifert ist eine Expertin im Erkennen von Todesursachen - und damit im Grunde
fehl am Platz. Aber Dragana Seifert ist der Überzeugung, es brauche für ihre
Aufgabe den kühlen Blick der Forensikerin. Sie kann erkennen, ob ein Bluterguss
tatsächlich die Folge eines Sturzes mit dem Fahrrad war, wie es die Eltern
behaupten, oder ob er von einem Fausthieb herrührt. Die Kinder, die das
Jugendamt zu ihr bringt, sind manchmal 17 Jahre alt, manchmal erst wenige
Monate, meist aber im Vorschulalter.
SPIEGEL: Frau Seifert, was tun Eltern ihren Kindern an?
Seifert: Alles. Das Spektrum an Grausamkeiten sprengt jede
Fantasie. Ich habe einen kleinen Jungen untersucht, er ging in die zweite
Klasse. Die Mutter hatte ihm gegenüber null Emotionen, sie hatte nur Augen für
ihren neuen Freund. Und dieser Freund hat den Jungen massiv misshandelt,
seelisch und körperlich. Der Junge musste nachts auf einem Bein in der Ecke
stehen, der Freund kam zwischendurch kontrollieren, ob er das auch tut. Und
wehe, wenn nicht. Oder: Der Freund hat eine Zimmertür geöffnet und den Jungen
über das Türblatt gehängt, sodass auf einer Seite der Tür die Beine
runterhingen und auf der anderen Seite der Oberkörper. Eltern treten ihre
Kinder, schlagen sie mit der Hand, mit einem Verlängerungskabel, mit einem
Schuh. Wir sehen auch Stich- oder Schnittverletzungen, aber eher selten. Zu mir
kommen Kinder mit Verbrühungen und Verbrennungen. Denen haben die Eltern die
Hände in heißes Wasser gehalten. Ich nenne das Micky-Maus-Handschuhe, weil es aussieht,
als hätten die Kinder Handschuhe an. Es kommt vor, dass Eltern ihr Kind zur
Strafe auf die heiße Herdplatte setzen, weil es in die Hose gemacht hat.
SPIEGEL: Was verrät Ihnen Ihre Arbeit über den Menschen?
Seifert: Es zeigt mir, wozu der Mensch fähig ist. Ich blicke
in seine Abgründe.
SPIEGEL: Hatten Sie heute schon einen Fall?
Seifert: Vorhin hatten wir ein 13-jähriges Mädchen hier. Die
Eltern beschuldigten sich gegenseitig, es geschlagen zu haben. Das erleben wir
oft.
Seiferts Handy klingelt, sie entschuldigt sich. "Ist es
dringend? Bis wann sind Sie erreichbar?" Das Telefon ist immer an, 24
Stunden, am Wochenende, im Urlaub. Ihr Mann ist auch Arzt. Er und ihre Freunde
sind schon daran gewöhnt, dass sie bei einem Abendessen einfach aufsteht, um
ins Klinikum zu fahren wegen eines Notfalls.
Seifert: Bei 13-Jährigen kann ich vorsichtig fragen: Weißt
du, warum du hier bist? Oder ich sage: Du bist hier, weil ich gehört habe, dass
du irgendwo Schmerzen hast - darf ich die Stelle bitte sehen? Bei kleineren
Kindern mache ich das natürlich nicht. Danach lasse ich das Kind erzählen, was
es so macht, wo es wohnt, in welche Klasse es geht, was es gern in der Schule
macht. So bekomme ich auch einen Eindruck, wo das Kind in seiner geistigen
Entwicklung steht. Dann wird das Kind gewogen und gemessen. Wir schauen, ob es
Verletzungen hat, erst im Gesicht, dann Hände, Nacken, Oberarme, Oberkörper und
dann die Beine. Heute Morgen, bei diesem Mädchen, haben wir nichts gefunden -
was nicht ausschließt, dass in der Vergangenheit etwas war.
Seit 2003 arbeitet Seifert am Institut für Rechtsmedizin in
Hamburg, das damals schon eine Anlaufstelle für erwachsene Gewaltopfer betrieb.
Seifert untersuchte viele Frauen, die ihr sagten, ihr Partner würde auch die
Kinder schlagen. Sie fragte sich: Wo sind diese Kinder, wer kümmert sich um
sie? 2005 gründete sie zusammen mit ihrem Chef Klaus Püschel das
"Kinderkompetenzzentrum für die Untersuchung von Kindern und Jugendlichen
beim Verdacht auf Vernachlässigung, Misshandlung und sexuellen
Missbrauch". Das Zentrum ist einzigartig in Deutschland, weil es Partner
der Landesregierung ist. Ein Kooperationsvertrag mit der Sozialbehörde sieht
seit Sommer 2014 vor, dass die Mitarbeiter des Jugendamts jeden Verdachtsfall
bei Dragana Seifert vorstellen müssen. Jeden. So eine Regelung gibt es in
keinem anderen Bundesland.
SPIEGEL: Woran erkennen Sie eine Misshandlung?
Seifert: Ich frage mich bei der Untersuchung: Kann das Kind
sich die Verletzung selbst zugefügt haben? Misstrauisch werde ich bei
Verletzungen im Mund, eingerissenem Lippenbändchen, verletzter Schleimhaut.
Verdächtig sind Stellen hinter dem Ohr, eigentlich im ganzen Gesicht außer an
Kinn und Nase, weil man da oft drauffällt. Dann betrachte ich innen liegende
Körperpartien, die Innenseiten der Oberarme, der Beine. Und den Bauch natürlich
- wie soll sich ein Kind eine Verletzung am Bauch zuziehen? Das Einzige, wo wir
uns keine Sorgen machen bei Kindern, die laufen können, sind die Schienbeine.
Die dürfen von oben bis unten blau sein. Ich achte auch genau auf den Blick
eines Kindes.
SPIEGEL: Was verrät der Ihnen?
Seifert: Manche Kinder schauen mich mit starrer Wachsamkeit
an, "frozen watchfulness" ist der Fachbegriff, gefrorene
Aufmerksamkeit. Das ist typisch für misshandelte Kinder. Ich hatte hier in der
vorigen Woche ein Mädchen, vier Jahre alt. Ich habe es angelächelt, woraufhin
Kinder in der Regel zurücklächeln. Dieses Kind hat auch beim dritten Mal nicht
gelächelt. Diese Kinder zucken zusammen, wenn sie eine schnelle Bewegung von
mir beobachten. Diese Kinder machen sich unsichtbar, weil sie denken: Wenn ich
unsichtbar bin, passiert mir nichts. Sie wollen keinen Laut von sich geben,
weil sie fürchten, angeschrien zu werden. Sie wollen sich nicht bewegen, weil
sie nicht wissen, ob sie sich in die falsche Richtung bewegen. Diese Kinder
wollen Geister sein.
Die meisten Kinder bringt das Jugendamt am Montag vorbei,
nach dem Wochenende, wenn die Lehrer in der Schule merken, ein Kind hat ein
blaues Auge oder seltsame Striemen auf dem Arm. Auch am Freitag werden viele
gebracht; das sind dann die Fälle, bei denen Kita-Betreuer oder Leute vom
Jugendamt die ganze Woche mit sich gerungen haben, bis sie sicher sind, etwas
unternehmen zu müssen.
Im Wartezimmer des Instituts liegen Legosteine und das Buch
über die kleine Raupe Nimmersatt. Im Behandlungsraum baumelt ein Mobile mit
Segelschiffen über dem Wickeltisch, ein großer brauner Teddybär sitzt in der
Ecke, ein Stoff-Elch, ein Pinguin.
Nach der Untersuchung dürfen sich die Kinder etwas
aussuchen, ein Pixi-Buch, ein paar Buntstifte. Es kommt vor, dass ein Kind
Seifert umarmt, ihr einen Kuss gibt oder sagt: Ich möchte hierbleiben.
Einmal hat sie einen behinderten Jungen untersucht, der mit
seiner Schwester und deren Freund in einem Bett schlafen musste. Das störte die
beiden so sehr, dass sie den Jungen ständig bissen; 30 Wunden zählte Dragana
Seifert. Der Junge war so dankbar für ihre Hilfe, dass er, kaum in der Lage zu
laufen und zu sprechen, im Vorgarten des Instituts einen Strauß weißer Blumen
für sie pflückte.
SPIEGEL: Fragen Sie die Kinder, wer sie misshandelt hat?
Seifert: Nein, das darf ich nicht.
SPIEGEL: Interessiert es Sie denn?
Seifert: Natürlich, aber ich muss meine Neugier zügeln.
SPIEGEL: Fällt es Ihnen schwer, bei den Untersuchungen der
Kinder nicht emotional zu werden?
Seifert: Ich habe gelernt, empathisch, doch neutral zu sein.
Sonst wäre ich keine gute Sachverständige. Ich bin nur glaubhaft, wenn ich kalt
bin bis ins Herz. Und wenn ich nicht glaubhaft bin, helfe ich dem Kind nicht.
Dass mich meine Arbeit innerlich bewegt, behalte ich möglichst für mich.
SPIEGEL: Was sind Anzeichen für eine Vernachlässigung?
Seifert: Ein Kind, das in seiner Entwicklung nicht gefördert
wird, um das sich niemand sorgt, kann zu dünn sein, kann dreckig sein, die
Zähne sind ungepflegt, der Po entzündet, weil niemand die Windeln wechselt.
Vielleicht kann das Kind keine Farbe nennen oder nicht auf einem Bein hüpfen.
Oder ich merke, das Kind ist nie draußen, es kann keinen Ball fangen. Was ich
oft sehe: viel zu kleine Schuhe. Die Kinder laufen komisch, ich ziehe ihnen die
Schuhe aus, und dann erkenne ich, dass die Zehen eingequetscht waren.
Auslöser der Zusammenarbeit des Zentrums mit dem Senat war
der Tod der dreijährigen Yamur im Jahr 2013. Die Mutter lebte in einer
Obdachlosenunterkunft, der Vater war ein vorbestrafter Schläger. Das Mädchen
kam kurz nach der Geburt zu einer Pflegefamilie, die Eltern behielten jedoch
das Sorgerecht. Nach gut zwei Jahren, kam Yamur zurück zu ihren Eltern.
Am 18. Dezember 2013 starb das Kind an inneren Blutungen
nach einem Leberriss. Bei der Obduktion stellten die Ärzte Verletzungen
weiterer Organe und des Gehirns fest, einen schlecht verheilten Bruch des
linken Arms, Brandnarben und über 80 Hämatome. Landesweit erregte der Fall des
Mädchens große Aufmerksamkeit. Nach Michelle (2004), Jessica (2005), Lara Mia
(2009) und Chantal (2012) war Yamur das fünfte Hamburger Kind innerhalb von
zehn Jahren, dessen gewaltsamer Tod auch auf Fehler von Behörden zurückzuführen
war. Die Partnerschaft des Kinderkompetenzzentrums mit dem Senat hat dazu
geführt, dass Dragana Seifert dreimal so viele Kinder untersucht wie zuvor.
SPIEGEL: Welche Erinnerungen haben Sie an Yamur?
Seifert: Ich habe das Mädchen untersucht, als es noch lebte.
Yamur hatte einen traurigen, resignierten Blick. Ich werde sie bis zum Ende
meines Lebens vor Augen haben. Sie hatte ein Schädel-Hirn-Trauma und einen Riss
in der Bauchspeicheldrüse. Wir haben Anzeige erstattet gegen unbekannt, nur das
dürfen wir. Und wir haben geglaubt, dass wir damit alles getan haben, was nötig
ist.
SPIEGEL: Welche Eltern misshandeln ihre Kinder eher als
andere? Jeder Vater und jede Mutter kennt diesen Moment: Das Baby hält nicht
still beim Wickeln, man packt es fester, und dann ist da diese Millisekunde, in
der ein zu festes Zugreifen gar nicht mehr so weit entfernt ist.
Seifert: Wir können bestätigen, was Studien in vielen
Ländern zeigen: Je geringer die Bildung der Eltern, je weniger wirtschaftliche
Möglichkeiten sie haben, desto größer ist das Risiko, dass sie ihr Kind
misshandeln. Es sind drogenabhängige Eltern, sozial verarmte Eltern, junge
Eltern und Alleinerziehende, die mit dem Kind überfordert sind. Die alles tun,
damit es ruhig ist. Ich habe zwei Geschwisterkinder untersucht, fünf Jahre alt,
die waren aufgefallen, weil sie nicht laufen konnten, nicht sprechen. Eine
Blutprobe hat ergeben, dass sie unter Valium standen. Wir hatten ein Kleinkind
hier, das hatte 1,3 Promille, weil der Babybrei mit Wodka gemischt war. Es gibt
Menschen, die überzeugt davon sind, dass sie das Recht haben, ihre Kinder zu
schlagen. Dann gibt es Eltern, die selbst geschlagen wurden, als sie klein
waren. Für sie ist es selbstverständlich, ein Verhaltensmuster, das sie als
Kind erlernt haben, bei ihrem Sohn oder ihrer Tochter als Erziehungsmaßnahme
anzuwenden. Aus Gewaltopfern werden häufig Gewalttäter.
SPIEGEL: Kindesmisshandlung ist also vor allem ein
Unterschichtenphänomen?
Seifert: Oh, nein. Die Privilegierten unserer Gesellschaft
misshandeln ihre Kinder auch, nur anders, perfider.
SPIEGEL: Wie?
Seifert: Mit seelischer Grausamkeit. Durch Liebesentzug.
Verachtung. Ignorieren. Beleidigen. Einsperren. Öffentliches Heruntermachen.
Ich erinnere mich an ein Mädchen, dem immer versprochen wurde, es dürfe seinen
Geburtstag groß feiern. Dann ist die Kleine fünf Minuten zu spät nach Hause
gekommen oder hat eine Zwei statt einer Eins in Mathe geschrieben, und dann
wurde ihr die Feier verboten. Aber nicht an dem Tag, an dem es passiert ist,
sondern erst kurz vor dem Geburtstag, als sie die Einladungen längst in der
Schule verteilt hatte. Sie musste also am nächsten Morgen allen sagen, dass sie
ein böses Mädchen sei und deshalb nicht feiern dürfe.
SPIEGEL: Wie landet so ein Mädchen bei Ihnen?
Seifert: Allein deshalb nicht. Aber das Mädchen wurde auch
geschlagen, mit einer Peitsche. Alle in der Familie waren Reiter.
SPIEGEL: Dann bleiben Kinder, die ausschließlich an
psychischer Gewalt leiden, bei Ihnen unter dem Radar?
Seifert: Ja, leider, wenn sie nicht anfangen, sich selbst zu
verletzen, also zu ritzen oder mit dem Kopf gegen die Wand zu schlagen. Das tun
sie oft.
Kinder, die misshandelt werden, gehen nicht selbst zur
Polizei. Jemand muss auf sie aufmerksam werden. Noch nie haben die Jugendämter
häufiger geprüft, ob das Wohl eines Kindes gefährdet ist, als heute. 2015
bearbeiteten sie in ganz Deutschland rund 129.000 Verfahren, gut 22.000 mehr
als noch drei Jahre zuvor. Es kommen auch mehr Kinder in Obhut, weil ihre Eltern
überfordert sind. 2008 waren es 31.154 Kinder, zuletzt 35.336. Auf den ersten
Blick sieht es so aus, als seien in Deutschland in den vergangenen Jahren mehr
Kinder misshandelt worden als früher. Wahrscheinlicher aber ist, dass nur mehr
Fälle bekannt geworden sind. Offenbar sieht die Bevölkerung genauer hin, die
staatlichen Institutionen kümmern sich intensiver. Meistens macht die Polizei,
ein Gericht oder die Staatsanwaltschaft das Jugendamt auf eine mögliche
Kindeswohlgefährdung aufmerksam, aber auch von Bekannten, Nachbarn, Schulen,
Kindertagesstätten kommen Hinweise. Wie viele Kinder Opfer von Gewalt werden,
weiß niemand genau. Dragana Seifert schätzt, dass auf jeden Fall, den sie
untersucht, mindestens einer kommt, der ihr verborgen bleibt, etwa weil er
fälschlicherweise als Unfall ohne Fremdverschulden verbucht wird. Andere
Kollegen vermuten, die Dunkelziffer sei noch viel höher.
Seifert: Ein Erwachsener muss in der Lage sein, einem Kind
zu erklären, was gut ist und was schlecht, was es darf und was nicht, ohne es
anzuschreien, ohne ihm zu drohen, ohne es zu schlagen. Schon der Klaps auf den
Hintern ist nicht okay. Schon Anschreien ist für mich nicht akzeptabel.
Über viele Jahrhunderte hinweg galten Kinder als Besitz
ihrer Eltern, und es hatte niemanden zu interessieren, wie sie behandelt
wurden. Der Sozialhistoriker Lloyd deMause hat es so formuliert: "Die
Historie der Kindheit ist ein Albtraum, aus dem wir gerade erst erwachen. Je
weiter wir in der Geschichte zurückgehen, desto größer wird die
Wahrscheinlichkeit, dass Kinder getötet, ausgesetzt, geschlagen, gequält und
sexuell missbraucht wurden."
Bis in die Siebzigerjahre galt in der Bundesrepublik das
Züchtigungsrecht für Lehrkräfte an Schulen, und noch in den Neunzigerjahren
fand das ganze Arsenal der schwarzen Pädagogik Anwendung in fast allen
deutschen Kinderzimmern. 1992 gaben 81 Prozent der Eltern ihren Kindern
Ohrfeigen, 41 Prozent schlugen sie mit einem Stock, 31 Prozent prügelten sie
so, dass sie einen Bluterguss bekamen. Bis 2002 waren diese Werte auf 69, 5 und
3 Prozent gesunken. Was auch damit zu tun haben mag, dass Kinder in Deutschland
seit dem Jahr 2000 das Recht auf eine gewaltfreie Erziehung haben.
"Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und
andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig", heißt es in Paragraf
1631, Absatz 2 des Bürgerlichen Gesetzbuchs. Wer dagegen verstößt, kann wegen
Körperverletzung verfolgt werden.
SPIEGEL: Gibt es heute Fälle, die es früher nicht gab?
Seifert: Die Bösartigkeit des Menschen verändert sich nicht,
falls Sie das meinen. Wir erleben aber in letzter Zeit häufiger, dass Eltern
ihre Kinder vernachlässigen, weil sie computersüchtig sind. Das gab es vor ein
paar Jahren noch nicht. Ich hatte Kinder hier, die waren unterernährt, waren kotverschmiert,
weil ihre Eltern nachts vorm Computer gesessen und gegen irgendjemanden aus
Japan gespielt haben. Ein Vater hat seinen drei Monate alten Sohn heftig
geschüttelt, weil ihn genervt hatte, dass das Kind nicht einschlafen wollte.
Der Vater hatte Sorge, den Level zu verlieren, den er sich am Computer erspielt
hatte. Das Kind ist jetzt schwerstbehindert, es vegetiert nur noch vor sich
hin.
SPIEGEL: Versuchen die Eltern, die Misshandlung zu
verbergen?
Seifert: Ich habe mal zwei Mädchen untersucht, die waren
beide geschminkt und als Eisprinzessin verkleidet, mit Kleidchen und Diadem.
Wir haben sie abgeschminkt und dann gesehen, dass ihre Gesichter übersät waren
mit Hämatomen.
SPIEGEL: Welche Ausreden lassen sich die Eltern einfallen?
Seifert: Die Kinder sind gegen den Schrank gelaufen, haben
gespielt und sich verletzt, der Hund hat das Kind verletzt, sie sind vom
Klettergerüst, vom Fahrrad gefallen.
SPIEGEL: Sie arbeiten stets gemeinsam mit einer
Kinderärztin. Warum?
Seifert: Weil nur so richtiger Kinderschutz möglich ist. Ein
Rechtsmediziner guckt die Kinder anders an als ein Kinderarzt, wir sind
unterschiedlich ausgebildet.
SPIEGEL: Was kann ein Kinderarzt, was Sie nicht können?
Seifert: Ich kann erahnen, dass ein Kind in seiner
Entwicklung verzögert ist, die Kinderärztin kann es belegen. Und sie kann die
Folgen von mangelnder gesundheitlicher Fürsorge viel besser erkennen als ich.
SPIEGEL: Und was können Sie, was ein Kinderarzt nicht kann?
Seifert: Mein Job ist es, misstrauisch zu sein. Wenn ich ein
Hämatom sehe und man mir erzählt, das Kind sei gestolpert und auf einen Stein
gefallen, dann frage ich mich: Kann das sein? Passt die Form des Hämatoms zu
einem Stein?
SPIEGEL: Sie glauben erst mal nichts.
Seifert: Richtig. Kinderärzte denken anders als
Rechtsmediziner, sie sprechen anders, sie tragen keinen weißen Kittel. Die
meisten Kinderärzte sind vertrauend und nett. Ich merke das auch hier: Wenn wir
mit den Eltern reden, dann fliegen der Kinderärztin die Herzen der Eltern zu,
mir nicht.
Im vergangenen Jahr hat Dragana Seifert 30-mal ihre
ärztliche Schweigepflicht gebrochen und eine Anzeige erstattet. Einen
rechtfertigenden Notstand hat sie etwa im Fall eines sieben Monate alten
Säuglings geltend gemacht, bei dem sie 13 Frakturen am gesamten Körper, auch am
Kopf, feststellte.
In den USA ist jeder Arzt gesetzlich verpflichtet, die
Polizei einzuschalten, wenn der Verdacht auf eine Kindesmisshandlung besteht.
In Österreich muss ein Arzt im Verdachtsfall "zum Wohl des
Minderjährigen" reagieren.
In Deutschland ist kein Arzt gezwungen, entsprechend zu
handeln, eine Meldepflicht gibt es nicht. Es gibt auch keine einheitliche
Regelung, wie das Jugendamt beim Verdacht auf Kindesmisshandlung vorzugehen
hat, die Rolle der Rechtsmedizin ist von Stadt zu Stadt verschieden.
SPIEGEL: Was muss geschehen, damit in Deutschland mehr
misshandelten Kindern geholfen werden kann?
Seifert: Ich wünsche mir, dass das Jugendamt manchmal früher
die Geduld mit einer Familie verliert, sich des Kindes annimmt.
SPIEGEL: Man weiß aber doch, wie schwer es für ein Kind ist,
von seinen Eltern getrennt zu sein.
Seifert: Mein Ziel ist es nicht, dass die Kinder
grundsätzlich aus der Familie genommen werden. Ich möchte, dass die Familien stärker
damit konfrontiert werden, dass sie Hilfe benötigen. Das ist ein Unterschied.
Ein Problem ist die Familienhilfe. Sie solidarisiert sich zu häufig mit den
Eltern. Das stört mich. Die Familienhilfe sollte auf jede Verletzung reagieren,
die verdächtig erscheint, aber ganz oft glaubt sie den Erklärungen der Eltern.
Ich frage mich, warum. Die Familienhilfe muss verstehen: Sie ist für die Kinder
da, nicht für die Eltern.
SPIEGEL: Sie sind selbst Mutter - welche Rolle spielt das in
Ihrem Beruf?
Seifert: Das spielt sicher eine Rolle, weil ich weiß, was
Mutterliebe bedeutet. Ich denke, dass mein Mutterinstinkt, das Verlangen, mein
Kind zu schützen, der stärkste Instinkt ist, den ich besitze. Für mein Kind
würde ich alles tun. Für mich ist das unbegreiflich: Eine Mutter duldet, dass
ihr Kind vom Freund geschlagen wird, nur weil er hübsch ist und jung, und sie
ihn nicht verlieren will.
Dragana Seifert obduzierte früher in der Schweiz am Institut
für Pathologie in Bern und am Gerichtlich-Medizinischen Institut in Basel
Leichen, was einfacher gewesen sei, sagt sie, weil sie die Leichen schnell
wieder vergessen habe. Die Kinder vergisst sie nicht.
SPIEGEL: Gibt es einen Fall, der Sie bis heute beschäftigt?
Seifert: Ein Satz, den ich meinen Studenten bei Vorlesungen
mit auf den Weg gebe, lautet: In der Hand jedes Arztes liegt die Zukunft und
das Schicksal eines Kindes. Ich meine das nicht pathetisch, sondern ernst.
Dieser Satz ist mein Credo. Dazu passt ein Fall, der mich nachhaltig
erschüttert hat.
SPIEGEL: Worum ging es?
Seifert: Ein Kind lebt zusammen mit Mutter und Stiefvater -
die klassische Konstellation. Die Mutter bringt das Kind - wieder klassisch -
an einem Sonntagabend in die Notaufnahme eines sehr großen Krankenhauses in
Norddeutschland. Sie sagt bei der Anmeldung: Die Ohren meiner Tochter sind
geschwollen, sie hat Schmerzen, ich hätte gern eine Salbe. Der HNO-Arzt kommt,
er hat es natürlich eilig, er verschreibt eine Salbe und macht sich keine
Gedanken.
SPIEGEL: Hat er sich das Kind angeschaut?
Seifert: Eben nicht. Zwei Tage später, und das ist wirklich
eine unglaubliche Geschichte, spazieren Mutter und Tochter am Hamburger Hafen
an einem türkischen Gemüsehändler vorbei. Dieser Mann hat kein Abitur, kein
Studium, aber er hat selbst vier Kinder und einen gesunden Menschenverstand. Er
sieht das Mädchen neben seiner Mutter laufen und denkt: ein Kind mit seltsamen
blauen Ohren, das so eingeschüchtert guckt - da stimmt was nicht. Er ruft die
Polizei, die Polizei bringt das Kind zu uns. Es war einer der schlimmsten Fälle
meiner Karriere. Ich traue mich nie, den Studenten alle Fotos von dem Kind zu
zeigen, sonst laufen die mir weg.
SPIEGEL: Was hat man dem Mädchen angetan?
Seifert: Wir haben bei dem Kind 35 Bissverletzungen am
ganzen Körper gezählt, von oben bis unten. Und was einen Rechtsmediziner sofort
nervös werden lässt: Es hatte Bisse rund um die Brust. Als ich das gesehen
habe, dachte ich: Bitte nicht! Das Mädchen war fünf Jahre alt. Wir haben dann
festgestellt, dass es schwer sexuell missbraucht worden ist, mit Verletzungen.
Das Kind war auf eine Weise vernachlässigt worden, wie man es sich kaum
vorstellen kann. Wir haben es in den Computertomografen geschickt, weil wir
Angst hatten, es könnte auch eine Hirnverletzung haben, das Mädchen hat nämlich
nicht gesprochen. Den Fall kann ich nicht vergessen, weil die Medizin versagt
hat.
SPIEGEL: Was hätte der Arzt in der Notaufnahme sehen müssen?
Seifert: Das Mädchen hatte deformierte Ohren,
Blumenkohlohren, wie man sie von Ringern kennt. Ich erwarte, dass ein HNO-Arzt
das sieht und nicht für normal hält. Der Stiefvater ist verurteilt worden,
sechs Jahre Gefängnis. Das Kind hat einen Monat im UKE verbracht, wir konnten
nur über Zeichnungen mit ihm kommunizieren. Es ist dann in eine spezielle Einrichtung
für schwer misshandelte Kinder verlegt worden.
SPIEGEL: Welche Lehren kann man aus diesem Fall ziehen?
Seifert: Ich bilde Kollegen in der Notaufnahme weiter, und
ich sage ihnen jedes Mal: Bitte, bitte, bitte denkt daran, die Eltern werden
von weit her zu euch kommen, weil sie irgendwo anders schon verbrannte Erde
hinterlassen haben. Sie werden kommen, wenn die jungen, unerfahrenen Ärzte
Dienst haben. Sie werden kommen, wenn die Notaufnahme überfüllt ist. Ich sage:
Bitte ruft uns an, uns und das Jugendamt - lieber einmal zu oft anrufen als
einmal zu wenig. Wissen Sie, wir können für so ein Kind tun, was wir wollen,
aber ungeschehen machen, was ihm widerfahren ist, können wir nicht. Aber wir
können dafür sorgen, dass die unmittelbare Qual ein Ende hat.
SPIEGEL: Frau Seifert, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
„In Deutschland
sterben Kinder für Geld“
Deutsche Behörden schützen Kinder nicht ausreichend vor
Gewalt, sagt Michael Tsokos, Leiter des Instituts für Rechtsmedizin an der
Berliner Charité. Im Interview sagt er, was sich seiner Meinung nach ändern
muss.
Michael Tsokos erhebt in seinem neuen Buch „Deutschland
misshandelt seine Kinder“, das er gemeinsam mit seiner Kollegin Saskia Guddat
geschrieben hat, schwere Vorwürfe. Sozialarbeitern, Ärzten und Richtern wirft
er systematisches Versagen vor, wenn es darum geht, Kinder und Jugendliche vor
Gewalt in der Familie zu beschützen oder Misshandlungsfälle zu ahnden. Eine
„Kultur des Täterschutzes“ will er in Deutschland ausgemacht haben.
Herr Tsokos, Sie haben
zuletzt bundesweit mit der vermeintlichen Entdeckung von Rosa Luxemburgs Leichnam
im Keller der Charité für Schlagzeilen gesorgt. Wie kommen Sie jetzt auf das
Thema Kindesmisshandlung?
Dieses Thema begleitet mich seit fast 20 Jahren. Als ich in
Hamburg in der Rechtsmedizin angefangen habe zu arbeiten, sind mir die ersten
Fälle untergekommen und ich dachte: Das ist ja furchtbar, aber das sind
Einzelfälle. Aber es hat sich in der Praxis gezeigt: Es sind keine Einzelfälle,
sie haben sich mit grausamer Regelmäßigkeit wiederholt. Und alle Fälle gleichen
sich. Sie bekommen ja nur die prominenten mit, über die die Presse berichtet.
Aber das ist nur die Spitze des Eisbergs, es gibt weitere Fälle, bei denen
würden Ihnen die Haare zu Berge stehen, wenn Sie wüssten, was da ablief. Ich
habe mir gedacht, ich kann nicht länger warten und muss das völlige Versagen
des Systems und des Staates aufzeigen.
Was werfen Sie dem
Staat vor?
Die Idee unseres Kinderschutzsystems an sich ist gut. Der
Staat kann nicht alles übernehmen, sondern überwacht. Die tägliche Arbeit
dagegen wird outgesourct an Träger, die damit Geld verdienen. Aber das System
ist einseitig und überaltert. Es schützt die Täter. Denn es geht davon aus,
dass die Eltern die Familie sind und nicht die Kinder. Die Träger verdienen nur
Geld, solange die Kinder in den Familien sind, also in den Händen ihrer
Peiniger. Sie aus der Familie herauszunehmen, gilt als ultima ratio. Mit diesem
System verdienen die Träger, auch kirchliche wie die Caritas, Millionen. In
Deutschland sterben die Kinder für Geld.
Von wie vielen Fällen
sprechen wir?
In Deutschland sterben drei Kinder pro Woche an ihren
Misshandlungen. 200.000 Fälle im Jahr hat mir der Kinderschutzbund bestätigt.
Hinzu kommt eine hohe Dunkelziffer. Die Zahl der Inobhutnahmen von Kindern
steigt in Deutschland jedes Jahr im zweistelligen Prozentbereich.
Dann könnte man ja
argumentieren, dass der Kinderschutz greift.
Dann müsste aber auch die Zahl der getöteten Kinder
abnehmen. Laut Polizei bleiben die Todesfälle durch Misshandlung allerdings auf
einem konstant hohen Niveau. In der Prävention funktioniert wenig.
Sie sind
Rechtsmediziner. Dann kommen Sie doch eigentlich erst hinzu, wenn es
buchstäblich zu spät ist.
Da haben Sie Recht. Aber so nah dran wie wir ist niemand.
Wir sehen das tote Kind, wir lesen in seiner Akte die Vorgeschichte, wir sitzen
als Sachverständige vor Gericht. Wir sind also an allen Schnittstellen
beteiligt. Und immer öfter werden wir bei überlebenden Kindern hinzugezogen,
die blind sind, halbseitig gelähmt, die nie zur Schule gehen werden, da sie auf
dem Entwicklungsstand eines Säuglings stehengeblieben sind. Alles, weil sie
heftig geschüttelt wurden.
In Ihrem Buch stellen
Sie die These auf, aus den Vornamen der Kinder ließe sich ihr
Gefährdungspotenzial ablesen. Die Täter rechnen Sie der „Generation Kevin“ zu.
Klingt etwas nach Vorurteil.
Das ist natürlich überspitzt formuliert und bewusst verallgemeinert.
Kevin war vor 20 Jahren durch den Film „Kevin allein zu Haus“ ein Modename. Das
heißt, früher hießen die Opfer Kevin. Und diese Opfer von damals sind die Täter
von heute. Aus meiner Erfahrung kann ich sagen, dass nicht Max, Anton und
Julius bei mir auf dem Tisch landen, sondern Kinder mit spinnerten
amerikanischen Vornamen wie Jayden oder Tyler Reese, die auf ein bestimmtes
soziales Niveau hindeuten.
Ein Malte oder
Maximilian sind Ihnen nicht untergekommen?
Sehr selten. Was nicht bedeutet, dass im Akademikermilieu
nicht geprügelt wird. Dort aber eher auf Körperstellen, an denen man es nicht
sofort sieht. Oder es wird durch seelische Grausamkeit wie Ignorieren
misshandelt. Aber dieses Thema haben wir genau wie den sexuellen Missbrauch im
Buch bewusst ausgeklammert.
Stimmt Ihr pauschales
Urteil überhaupt: Wer früher Opfer war, der wird später Täter?
Es gibt Gewaltstudien, die wir zu Rate gezogen haben, die
besagen, wer Kinder misshandelt, wurde früher auch als Kind misshandelt.
An Ihrem Buch gibt es
bereits viel Kritik. Der Deutsche Richterbund, der Kinderschutzbund, selbst die
Deutsche Gesellschaft für Rechtsmedizin halten Ihr Buch für populistisch.
Das Buch ist gerade erst erschienen, ich bezweifle, dass es
alle, die sich dazu äußern, gelesen haben. Dass sich der Richterbund darüber
aufregt, ist klar. Die Justiz versagt ja auch gehörig. Und den Präsidenten der
Gesellschaft für Rechtsmedizin würde ich gerne fragen, ob er denn in den
letzten Jahren noch in der Praxis tätig war oder nur hinter dem Schreibtisch
gesessen hat.
Aber populistische
Thesen stellen Sie schon auf. Etwa, dass Kindesmisshandler geisteskranke
Serientäter seien, Sie sprechen auch vom „Säuglingsmassaker“.
Natürlich ist das Buch auch populistisch. Allein der Titel
ist bewusst provokant gewählt. Aber da steckt keine Werbestrategie hinter. Wir
möchten eine Debatte anregen. Die Verantwortlichen sollen sich stellen. Wir
reden über nichts weniger als die Würde unserer Gesellschaft. Allein aus purem
Egoismus sollten wir dieses Thema nicht länger ignorieren. Wir züchten uns eine
Generation von Gewalttätern heran, die wir irgendwann nicht mehr in den Griff
bekommen.
Gegenüber diesen
Gewalttätern fordern Sie „Null Toleranz“. Was genau soll das denn bedeuten?
Ich kenne aus meinen 20 Jahren Praxis nur einen Fall, in dem
Eltern wegen Mordes verurteilt wurden. Ansonsten kenne ich fast nur Freisprüche
und erlebe im Gerichtssaal, wie Kinder ihren Peinigern zurückgegeben werden.
Die Justiz muss sich intensiv mit den Verantwortlichen auseinandersetzen und
genau schauen, wer an welcher Stelle involviert war und wie versagt hat. Denn
im Moment haben wir eine Kultur des Wegschauens.
Die neue
Familienministerin Manuela Schwesig (SPD) hat bereits eine „Kultur des
Hinschauens“ gefordert.
Was soll das denn sein? Das ist eine hohle Floskel, purer
Zynismus. Wir brauchen eine Kultur des Handelns und nicht des Täterschutzes.
Wir brauchen jetzt den Druck auf die Politiker.
Man merkt, dass Sie
als fünffachen Vater dieses Thema besonders bewegt.
Zum ersten Mal in meiner beruflichen Laufbahn nimmt mich ein
Thema mit. Und es wird mit jedem toten Kind schwieriger. Ich bin es einfach
leid, dass alle alles richtig gemacht haben wollen. Jeder dieser Fälle hat
irgendwie Spuren bei mir hinterlassen. Es ist nicht so, dass ich ein
psychisches Wrack bin. Aber mir ist jeder Fall in Erinnerung geblieben.
Welcher Fall hat Sie
besonders mitgenommen?
Der von Nadine Küstritz, die offiziell an Lungenentzündung
gestorben ist. Sie lag bereits zwei Tage sterbend zu Hause. Nach ihrem Tod bin
ich in die Wohnung der Eltern und habe ihre fünf Geschwister untersucht. Sie
wiesen allesamt Spuren von Misshandlung auf. In der Wohnung waren die Fenster
mit schwarzen Tüchern verhangen, die Kinder mussten auf den nackten
Lattenrosten schlafen, die mit Kot verschmiert waren. Der Vater war Pfleger und
hat die Kinder immer mit Medikamenten betäubt, wenn die Betreuerin vom Jugendamt
kam. Die war völlig entsetzt nach Nadines Tod, weil sie das Kind noch zwei Tage
zuvor quietschlebendig herumspringen gesehen hatte. Aber die Eltern hatten ihr
stets eine andere Tochter vorgeführt. Nadine hatte Klumpfüße und konnte gar
nicht laufen. Sie sehen also, diese spezielle Klientel ist mit allen Wassern
gewaschen, die lässt sich von gar nichts beeindrucken. Es wird belogen,
betrogen und vorgetäuscht. Wir müssen uns von dem Gedanken trennen, dass wir es
mit empathischen Menschen zu tun haben.
Interview: Arne Leyenberg
http://www.fr-online.de/panorama/kindesmisshandlung--in-deutschland-sterben-kinder-fuer-geld-,1472782,26086030.html
Ja. ->
"Je mehr Kinder bei uns und weltweit vernachlässigt,
geschlagen, gedemütigt werden und in Hoffnungslosigkeit und Hass abgleiten,
desto höher ist das destruktive Potential in unserem eigenen Land und weltweit.
Vor diesem Hintergrund ist Kinderschutz zu einer Frage des Überlebens geworden.
Weltweiter Kinderschutz ist der Königsweg zur Prävention nicht nur von
seelischem Leid, sondern auch von Kriminalität, Militarismus und Terrorismus.
Er sichert die Demokratie und den friedlichen kulturellen und ökonomischen
Austausch. Unsere gesamte Kreativität und Entschlossenheit ist gefragt, dies zu
realisieren. Wenn wir alle dies wollten in einem einzigartigen solidarischen
Akt, hätten wir dafür auch das Wissen und die Mittel." (Prof. Dr. med. Peter Riedesser)
Kann man es noch klarer ausdrücken?
Weitere Links, die mir wichtig erscheinen ->