Liebes Bildungssystem,
6 Jahre lang habe ich ein Kind dazu erzogen kreativ zu sein,
sich auszudrücken, habe ihm gesagt es sei ok es selbst zu sein, Entscheidungen
zu treffen, Verantwortung zu übernehmen, eine eigene Meinung zu haben, achtsam
mit seinem Körper umzugehen und seinen Bedürfnissen zu folgen, dann kamst du.
Du belohnst kleine Kinder mit Stempeln dafür stundenlang
einfach ruhig zu sein, brav stillzusitzen, bloß nicht aufzufallen, nur zu
reden, wenn man gefragt wird, auf Knopfdruck nur die richtigen Antworten
auszuspucken ohne über Alternativen nachzudenken, nie über die Linien zu malen
und statt individuell unbedingt angepasst zu sein.
Du brichst mir das Herz! Du verwandelst wissbegierige,
aufgeschlossene, fröhliche Kinder in zerrisse, willenlose, hilflose,
verunsicherte kleine Menschen, die im 45 Minuten Takt immer mehr ihrer
Persönlichkeit aufgeben müssen um dem zu entsprechen, was du als Maßstab
ansetzt.
Unter dem Deckmantel der Vergleichbarkeit presst du
ungeachtet der Talente und Stärken des Kindes mit Hochdruck deine veralteten
Lösungsansätze in die kleinen Köpfe und lässt dabei immer weniger Luft für
etwas anderes.
Aus Dingen die Spaß machen sollten werden so Zwänge, aus
Kreativität wird Pflicht und aus Individualität Konformität.
Kein Raum fürs Wollen, denn das Müssen füllt alles aus.
Wie viele Kinder wirst du noch brechen und wie vielen
Therapeuten ihre Stadtvilla damit finanzieren, bevor du merkst, dass das, was
du heute erschaffst gestern schon keine Zukunft mehr hatte?
Um neue Probleme zu lösen kann man keine alten Wege gehen!
Schönschrift wird keine Pandemien heilen, nicht Hunger und Ungerechtigkeit in
der Welt beenden, ein Mensch der zum Stillschweigen und unsichtbar sein erzogen
wird, wird keine Zivilcourage zeigen und seine Stimme erheben. Jemand der ab 6
Jahren lernt seine eigenen Bedürfnisse zu missachten wird es schwer haben
achtsam mit denen anderer Menschen umzugehen.
Heute helfe ich Menschen dabei ihre Stimme, ihre Stärken und
Talente wiederzufinden. All das, was sie für dich aufgeben mussten sind die
Dinge, die sie jetzt einzigartig, stark und erfolgreich machen. Sie arbeiten
hart um sich selbst wiederzufinden und selbstbewusst sie selbst sein zu können,
wieder achtsam mit sich umzugehen und in ihre volle Größe zu wachsen, mit der
sie eigentlich oft schon als kleine Menschen geboren wurden.
Du hast es versucht und bist gescheitert, das ist ok, es
gehört zum Prozess, zum Leben. Es ist Zeit dein Ego bei Seite zu schieben um
Platz für etwas Neues zu schaffen!
Du warst sicher stets bemüht, danke dafür.
Hochachtungsvoll
Eine Mutter von vielen
(von Christin-Isabell Biergans, Facebook, 09.10.2018)
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"Wenn die armen Kinder jedes Mal einen Zehner bekämen, wenn ihr Schicksal bedauert wird – dann wären sie inzwischen reich."
Jedes 5. Kind ist arm
Was für eine Schande, sagen alle. Wir müssen etwas ändern, sagen
die Politiker. Unsere Autorin schreibt seit zehn Jahren über Kinderarmut in
Deutschland. Sie ist die billige Heuchelei leid.
Von Julia Friedrichs
Kinderarmut: Rund zwei Millionen Kinder in Deutschland sind
von Armut bedroht.
Eine der Ersten war Janina. Ich traf sie vor zehn Jahren in
Bochum-Wattenscheid. Als ich sie kennenlernte, war sie elf Monate alt. Zwei
Etagen unter ihr lebte ihr Opa. Sein Einkommen bekam er vom Amt, genau wie ihr
Papa und ihre Mama. Die beiden stritten oft, und Janina stellten sie zum
Füttern in einem Autositz aufs Sofa, weil sie keinen Kinderstuhl hatten. An
diesem Tag, es war der 24. Oktober, hatten Janinas Eltern noch sieben Euro auf
ihrem Konto. Zu wenig, um bis zur November-Überweisung über die Runden zu
kommen. Der Kühlschrank war leer, die Windeln für Janina waren aufgebraucht,
und immer wenn es an der Tür klingelte, zitterten die Eltern, aus Sorge, das
Jugendamt würde kommen, um das Kind mitzunehmen und damit den einzigen Antrieb,
diesen ganzen dreckigen Alltag auszuhalten.
Dann war da Sascha, ein Kölner, blass und schlau, zehn Jahre
alt. Er hatte gesehen, wie seine Mutter weinte, als die Grundschullehrer ihm
eine Empfehlung für die Hauptschule ausstellten. Jetzt saß er da, sprach mit
den Freunden über die Zukunft, die für einen Zehnjährigen genau das sein
sollte, was sie für seine Klassenkameraden war: ein Ort der Träume und
Spinnereien. Einer wollte Hundeverkäufer werden, einer Präsident von Afrika,
einer, natürlich, Fußballstar. Und Sascha? Der ahnte, welchen Platz ihm die Erwachsenen
längst zugewiesen hatten. "Wenn ich hier den Hauptschulabschluss
mache", sagte er, "kann ich ja höchstens Kloputzer werden."
Oder Ercan, auch er zehn Jahre alt. Nur eine gut 30 Meter
breite Straße trennte die Wohnblocks in Berlin-Kreuzberg, in denen er als
Jüngster in einer achtköpfigen Familie groß wurde, von den wohlhabenden
Altbauten, in denen die meisten Kinder einzeln oder im Doppelpack aufwuchsen.
Dass die Eltern der anderen Kinder mehr Geld hatten, störte Ercan nicht. Dass
viele von ihnen die Welt bereisten und er das Viertel nur selten verließ, auch
nicht. Aber dass er jeden Morgen in diese Schule gehen musste, in der die Klos
ständig verstopft waren und es wegen Bauarbeiten schon lange keinen Schulhof
mehr gab, diese Schule, in der ihm so oft der Kopf wehtat, weil es in der
Klasse so laut war, wenn seine Mitschüler fluchten und störten und die Lehrer
"Ruhe!" schrien, das nervte Ercan sehr. Denn er hätte gern mehr
gelernt – so wie die Jungen und Mädchen aus den Altbauten, die von ihren Eltern
weit weg in bessere Schulen gefahren wurden.
Seit mehr als zehn Jahren berichte ich in Fernsehreportagen,
Büchern und Zeitungsartikeln immer wieder über arme und abgehängte Kinder in
Deutschland. Ich war in Wohnungen, die nach Urin stanken, und in solchen, in
denen sich Eltern mühten, auch ohne Geld Würde und Anstand zu wahren. Ich habe
mit Grundschulkindern gesprochen, die jobben wollten, um ihren Eltern zu
helfen, und solchen, die wütend wurden, weil ihnen immer gepredigt wurde, dass
sie verzichten müssten.
Ich habe all die Statistiken gelesen. Und weiß, dass
Janinas, Saschas und Ercans Lebenschancen schlechter sind als die ihrer
Altersgenossen. Dass die drei aller Wahrscheinlichkeit nach nicht studieren
werden. Mehr als in vielen anderen Industrieländern entscheidet bei uns die
soziale Herkunft über die Zukunft von Kindern. Bereits mit sechs Jahren können
sich arme Kinder im Schnitt schlechter konzentrieren und sind häufiger
übergewichtig und krank als ihre nicht armen Altersgenossen. Sie können
schlechter sprechen, schlechter zählen. Und in der Schule gelingt es viel zu
selten, diesen Startnachteil wettzumachen. Das gilt übrigens selbst dann, wenn
die Eltern zwar wenig Geld, dafür aber einen hohen Bildungsstand haben. Ich
kenne die Analysen, wonach ein Kind, das arm ist, später gefährdeter ist,
Drogen zu nehmen, ein Opfer von Gewalt oder selbst kriminell zu werden. Der
Malus der Armut bleibt oft ein Leben lang, bis zum Ende: Die statistische
Lebenserwartung eines Jungen, der in eine arme Familie geboren wird, ist elf
Jahre niedriger als die eines Jungen aus wohlhabendem Hause.
Auch weiß ich inzwischen, wie Leser und Zuhörer reagieren,
wenn ich von Kindern wie ihnen schreibe oder auf Veranstaltungen von ihnen
erzähle. Manche bedauern Janina, Sascha und Ercan ein paar Sätze lang, dann
geben sie deren Eltern die Schuld: Diese allein seien verantwortlich für das
Schicksal ihrer Kinder, nicht die Gesellschaft. Die meisten Leser und Zuhörer
aber sind anders. Sie fühlen mit und sind bestürzt über, wie es immer heißt,
"so viele arme Kinder in unserem reichen Land".
Es ist eine Reaktion, die man auch in den nächsten Wochen
wieder hören wird, wenn die Bundesregierung ihren Armutsbericht veröffentlicht.
Eine Reaktion, die seit zehn Jahren auf jede neue Studie, jede neue Statistik
zur Kinderarmut in Deutschland folgt.
Es wäre für den Staat einfach, für Familienrabatte zu sorgen
Es sind ja auch traurige Zahlen: Rund zwei Millionen Kinder
in Deutschland sind von Armut bedroht, das ist jedes fünfte. Besonders häufig
arm sind Kinder von Arbeitslosen, Alleinerziehenden und solche mit mindestens
zwei Geschwistern. Armut ist in Deutschland natürlich relativ und, um den
Einwand der Leserbriefschreiber schon mal vorwegzunehmen, natürlich nicht mit
der in Kalkutta zu vergleichen.
Arm sein heißt laut Statistik erst mal nur, dass die Familie
mit weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens auskommen muss. Arm sein
bedeutet aber auch: beengte Wohnungen, raue Stadtviertel, kein Geld für
individuelle Förderung, für Wünsche, nie Urlaub.
Ercan konnte in die Dreiraumwohnung der Großfamilie keine
Freunde einladen. In Saschas Viertel klauten die Älteren den Kleineren Geld und
Handys. Und Janinas Familie ging die halbe Stunde zum Jobcenter stets zu Fuß.
Das Straßenbahnticket war viel zu teuer.
Wie kann das sein?, beklagen dann regelmäßig die
Journalisten. Wir müssen etwas ändern, bekräftigen die Politiker, Jahr um Jahr.
"Kinderarmut ist eines der beschämendsten Probleme in
unserem Land", sagte die damalige Familienministerin Ursula von der Leyen
2007.
"Für mich ist die Bekämpfung von Kinderarmut ein sehr
wichtiger Punkt", sagte die aktuelle Familienministerin Manuela Schwesig
im Jahr 2014.
"Kinderarmut ist ein bedrückendes Problem", sagte
Arbeitsministerin Andrea Nahles im Mai 2016.
Welch große Einigkeit! Wenn aber alle ihre Bestürzung
geäußert haben, wird es still, bis zur nächsten Statistik, der nächsten Welle
der Empörung.
Ich fühle mich dann wie in einer Zeitschleife. Denn die Zahl
der armen Kinder ist bis Mitte der 2000er Jahre angestiegen und sinkt nicht.
Seit zehn Jahren nehmen unsere Regierungen in Kauf, dass zwei Millionen Janinas
und Saschas und Ercans in Wattenscheid, Köln oder Berlin aufwachsen und von
Anfang an schlechte Karten haben, Erfolge zu erleben, Talente zu entfalten, die
Welt zu erobern – oder wem das zu sozialromantisch klingt: Steuerzahler zu
werden und in die Rentenkassen einzuzahlen, Unternehmen zu gründen, mit ihrem
Geist dieses Land zu bereichern und damit unsere Zukunft zu sichern.
Klar: Hier und da werden, wie es dann heißt,
"Maßnahmen" ergriffen, es wird, wie gerade geschehen, der
Kinderzuschlag für Eltern mit niedrigem Einkommen um zehn Euro erhöht oder das
Kindergeld um zwei Euro monatlich, es werden Teilhabepakete geschnürt. Und in
einzelnen Stadtvierteln, in vielen kleinen Projekten gelingt auch Großes. Aber
legt man die Lupe beiseite und betrachtet das ganze Bild, hat sich wenig
geändert. Wann gingen Bürger einmal auf die Straße, um sich darüber zu empören,
dass so viele Kinder abgehängt sind? Wo ist der gut vernetzte Verein, der Druck
macht, bis es gut ausgestattete Bildungseinrichtungen für alle von Anfang an
gibt? Wo ist die konzertierte Aktion der Regierung gegen Chancenarmut? Dabei
ist es offensichtlich, was dringend zu tun wäre: herausragende
Bildungseinrichtungen für ganz Kleine zum Beispiel, vor allem in den Vierteln,
in denen die Armut groß ist. Aber auch: endlich verlässliche
Ganztagsgrundschulen, in denen die Kinder nicht am Nachmittag nur betreut
werden, sondern in denen alle gemeinsam auch nach zwölf Uhr noch lernen, Sport
treiben, musizieren und ein warmes Mittagessen bekommen. Wenn die Bundesländer
es weiter nicht schaffen, ihren föderalen Flickenteppich zu einem einheitlichen
Ganzen zusammenzuweben, müsste der Bund die Verantwortung für diese Schulen
tragen.
Kommen wir zum Geld: Wie können wir hinnehmen, dass dem
Staat ein armes Kind – trotz Mahnungen der Verfassungsrichter – weniger wert
ist als ein armer Erwachsener? Dass der Hartz-IV-Regelsatz für einen
Zehnjährigen rund 100 Euro im Monat niedriger ist als der seiner Elternteile?
Jeder, der Kinder hat, weiß, dass diese häufiger neue
Kleidung brauchen als Erwachsene, dass sie Bücher, Stifte und vor allem:
gesundes Essen brauchen. Jeder, der Kinder hat, weiß, dass es ihnen viel
schwerer fällt zu verzichten als den Eltern, die ihre Lage begreifen können.
Und Verzicht bedeutet nicht, die zum Klischee aufgeblasenen Markenschuhe nicht
kaufen zu können, sondern sich all das nicht zu leisten, was die Freunde tun:
Schwimmunterricht, Zoobesuche und, wenn es regnet, einen Kinobesuch mit
Popcorn.
Es wäre für den Staat einfach, dafür zu sorgen, dass große
Familien günstiger wohnen können. Dass kinderreiche Familien – wie etwa in
Frankreich – Rabatte bekommen, wenn sie verreisen wollen oder Kleidung und
Schulsachen kaufen.
Ein armes Kind ist dem Staat weniger wert als ein reiches
Deutschland investiert viel Geld, um Ehen und Familien zu
unterstützen. 200 Milliarden Euro verteilen Behörden pro Jahr an Paare mit und
ohne Kinder. Allerdings tun sie das nicht mit der Gießkanne, wie oft kritisiert
wird, sondern mit einem außer Kontrolle geratenen Rasensprenger: Er wässert die
Wiese vor allem dort, wo sie ohnehin schon sattgrün ist.
Es gibt über 150 Familienleistungen – Elterngeld,
Kindergeld, Kita-Zuschuss –, und das Zentrum für Europäische
Wirtschaftsforschung hat gerade erst berechnet, wie sich dieses Geld verteilt.
Das Ergebnis war überraschend: 13 Prozent der Fördersumme landen bei den
reichsten zehn Prozent der Familien, nur sieben Prozent bei den ärmsten zehn
Prozent. Anders ausgedrückt: Ein armes Kind ist dem Staat monatlich im Schnitt
107 Euro wert, ein reiches aber 199 Euro. Ein absurdes System.
Würde der Staat stattdessen jedem Kind, egal wie alt, egal
aus welcher Familie, das zahlen, was es zum Leben braucht, wäre das nicht nur
ein Zeichen dafür, dass alle Kinder gleich viel wert sind, sondern auch eine
wirksame Waffe gegen die Folgen der Armut. Kindergrundsicherung nennen
Wissenschaftler das und schlagen vor: 500 Euro sollte jedes Kind pro Monat
erhalten.
Das klingt nach Träumerei? Auf gerade mal 30 Milliarden Euro
schätzt ein Team der Böll-Stiftung die Mehrkosten pro Jahr. Allein die
Abschaffung des Ehegattensplittings würde etwa 20 Milliarden einbringen.
Möglich wäre es also.
Stattdessen erleben wir seit Jahren diese unwürdige
Aufführung aus Armutszahlen, politischem Bedauern und gleichzeitigem Nichtstun.
Warum?
Inzwischen habe ich nur eine Erklärung: Am Ende sind Kinder
wie Janina, Ercan und Sascha den allermeisten dann doch egal. Klar, es fällt
schwer, in die runden Augen zu blicken und zuzuhören, wenn die Kleinen von
ihrer Armut erzählen. Selbstverständlich müssen viele schlucken, wenn ihnen
klar wird, wie unwahrscheinlich es ist, dass es in diesen Leben, die mit wenig
Chancen beginnen, eine Wende zum Guten geben wird.
Aber spätestens wenn aus den süßen Zehnjährigen laute,
manchmal schwierige Teenager geworden sind, wandelt sich das Mitleid vieler in
Ablehnung. Sollen sie sich doch mehr anstrengen, höre ich oft. Sollen sie doch
sehen, wie sie klarkommen! Binnen weniger Jahre werden aus den Opfern ihrer
Lebensumstände Täter.
Das ist nur eine der Strategien, das Gewissen zu
besänftigen. Andere ersticken ihr Mitgefühl in abstrakten Debatten, über
Armutseinwanderung oder den Armutsadel. Die Milderen haben gerade vor
Weihnachten wieder gespendet, immerhin.
Für echte Aufstiegschancen der armen Jungen und Mädchen aber
kämpft niemand. Vielleicht, so denke ich manchmal, belügen sich vor allem die
Menschen der Mittelschicht selbst. Haben sie wirklich ein Interesse daran, dass
die armen Kinder mitmischen beim ohnehin angespannten Wettkampf um
Karrierechancen? Oder sind viele Eltern insgeheim froh darüber, dass ein
Fünftel der Konkurrenz bereits in der Schule abgehängt ist?
Ein Student, der sich ehrenamtlich um Ercans Bruder
kümmerte, hat es mal so formuliert: "Es heißt immer: Kinder sind unsere
Zukunft. Aber die Kinder in unserer Siedlung sind damit nicht gemeint."
Da hat er wohl recht. Offenkundig können die Deutschen ganz
gut damit leben, dass zwei Millionen Kinder mit wenig Geld und noch weniger
Chancen aufwachsen. Was zu tun wäre, liegt auf der Hand: Investitionen in Schulen
und Kindergärten, vor allem dort, wo arme Kinder leben, Geld für günstige
Wohnungen, eine Kindergrundsicherung, die den Namen verdient.
Bleiben wir weiter untätig, sollten wir zumindest auf die
öffentliche Selbstkasteiung verzichten, die quartalsweise mit großer Rhetorik
unternommen wird. Was für eine eingeübte Empörung! Wenn die armen Kinder jedes
Mal, wenn ihr Schicksal bedauert wird, einen Zehner bekämen – dann zumindest
hätten sie noch etwas von dieser billigen Heuchelei.
Gewalt und Radikalisierung vermeiden – eine Anleitung
Wie Aggression, Gewalt und potenzieller Radikalisierung in
Kindergärten und Schulen vorgebeugt werden kann, erklärt der renommierte
dänische Familientherapeut Jesper Juul in diesem Fachartikel für Experten. Ein
exklusiver Beitrag, der auch Eltern wichtige Einblicke in eine hochaktuelle
Thematik gibt.
Text: Jesper Juul
Diese Anleitung beschreibt, wie und warum wir einen höheren
Grad an Gewalt und Aggression in Kindergärten und Schulen erwarten können, die
aus der ablehnenden europäischen Haltung gegenüber den Flüchtlingen resultiert,
und wie wir mit dieser Situation als
Lehrer und Eltern umgehen können. Der Text illustriert die unterschiedlichen
und doch identischen Quellen von
Aggression bei europäischen und geflüchteten Kindern und Jugendlichen, und die Notwendigkeit neuer
pädagogischer Ansätze. Mit dem Begriff
«Prävention», den ich hier benutze meine ich Primärprävention. Da es
über den Zusammenhang zwischen
politischen und kulturellen Haltungen gegenüber Migranten und Flüchtlingen und dem Auftreten von Aggression
und Gewalt bei Kindern und Jugendlichen
keinerlei Forschungsergebnisse gibt, sind die in Folge beschriebenen
Ansprüche und Vorhersagen nicht
evidenzbasiert, sondern erfahrungsbasiert.
Die enorme Menge an Flüchtlingen und Migranten, die nach
Europa kommen und die vielfältigen Methoden, mit denen unsere Regierungen
beschlossen haben, sie nicht willkommen zu heißen, hat bereits von unseren
eigenen Bürgern initiierte Gewaltausbrüche und Vandalismus zur Folge gehabt. Es
gibt wenig Hoffnung, dass die Lage nicht eskalieren wird und es nicht noch
gewaltsamere Konfrontationen, sowohl zwischen unterschiedlichen Bürgergruppen,
als auch zwischen «uns und denen», geben wird»
Aus der jüngsten Geschichte haben wir gelernt, dass wir uns
viel besser um die Kinder und Jugendlichen primär aus muslimischen Familien
kümmern müssen. Wir haben sie vernachlässigt, indem wir ihr existenzielles
Dilemma und ihr Bedürfnis, sich unserer Gesellschaft zugehörig zu fühlen,
ignoriert haben, oft einfach bis zur Entfremdung und Verzweiflung. Die daraus
resultierende Tendenz, sich kriminellen Gangs oder radikalen Bewegungen anzuschließen,
die ihnen Sinn, Struktur und Ausrichtung in ihrem Leben geben, hat uns erst vor
kurzem aufhorchen lassen.
Diese Tatsache hat nun zweierlei Dinge zur Folge:
Erstens hat es rechtsextremen Bewegungen Gelegenheit
geboten, sich in der politischen Szene sowie auf den Straßen breit zu machen.
Diese Bewegungen, ob Gruppierungen oder Gangs, sind in ihrer Philosophie und
ihrem Verhalten alle aggressiv und gewalttätig, obwohl sie behaupten, sie
würden aus Liebe zu ihrer Heimat handeln (aus historischer Sicht haben
rechtsextreme Bewegungen die Tendenz, nationalistische Abstraktionen
leidenschaftlicher zu lieben als ihre Nächsten).
Zweitens hat es zehntausende besonnener, mündiger und
verantwortungsvoller Bürger bewegt, mit vielen unterschiedlichen empathischen,
menschlichen und intelligenten Initiativen unser ethisches und moralisches
Kapital sowie unsere fundamentalen christlichen Tugenden wie Güte, Empathie, Großzügigkeit
und Freundschaft zu schützen. Kurz gesagt
hat diese negative Atmosphäre zur Folge, dass Tausende europäische Kinder, die
von den aggressiven und rassistischen Werten ihrer Eltern und der Netzwerke
ihrer Erwachsenen geprägt sind, in unsere pädagogischen Einrichtungen eintreten
werden. Gleichzeitig werden viele Kinder aus Flüchtlingsfamilien die gleichen
Einrichtungen besuchen und diese werden von den Gräueln, die sie in ihrem
Herkunftsland erlebt haben, psychologisch, seelisch und existenziell gezeichnet
sein, aber auch von einer neuen Angst, und zwar ausgeschlossen und isoliert zu
werden, eine Angst, die das Lebensgefühl ihrer Eltern und auch ihr eigenes
bestimmen.
Die Etymologie der Aggression
Diese Situation wird unvermeidlich einen Anstieg aggressiven
und gewalttätigen Verhaltens zwischen Kindern und Jugendlichen, und sogar von
Kindern und Jugendlichen ihren Lehrern gegenüber haben. Der psychosoziale
Ursprung dieser Aggression ist die Angst, seinen Besitz, seine Werte und sein
Revier zu verlieren; die Angst vor Ablehnung, Ausgrenzung und Isolierung;
unerkannter Schmerz aus traumatischen Ursachen, der nachweislich zu PTBS führt,
sogar bei sehr jungen Kindern. Die kurze Fassung hiervon, die ich im Folgenden
weiter ausführen werde, ist, dass beide Gruppen Kinder entweder einen
imaginären Werteverlust erleben werden, der mit ihren übernommenen Werten und
Besitz in Verbindung steht (heimische Kinder) oder einen sehr realen Verlust
des Gefühls, für die Gesellschaft wertvoll zu sein (geflüchtete Kinder).
Wie ich es ausführlich in meinem Buch über Aggression
erklärt habe (Jesper Juul - «Aggression, warum sie für uns und unsere Kinder
notwendig ist») bildet dieser imaginäre oder reelle Verlust ihres Wertes als
menschliche Wesen an sich die die Wurzel der Aggression. Wenn mit dieser
gesunden emotionalen Reaktion nicht angemessen von Seiten der Eltern, Lehrer,
Therapeuten, Ärzte und Ordnungskräfte umgegangen wird und wenn sie durch
Politiker und den Gesetzgeber nicht gewürdigt wird, wird sie sich immer in
Gewalt verwandeln. Wenn Menschen nicht gehört werden, haben sie die Tendenz die
«Lautstärke» aufzudrehen. Diese Gewalt kann entweder schädigende Gewalt sein,
die andere Menschen verletzt oder ihren Besitz beschädigt, oder sie kann von
der introvertierten Sorte sein, die in eine Reihe von selbstzerstörerischen
Verhalten resultiert.
Destruktive Aggression wurzelt in der Erfahrung des
Einzelnen, nicht gesehen und nicht gehört zu werden. Dadurch kommen der Sinn
von Zugehörigkeit und das Gefühl, für andere wertvoll zu sein, abhanden. Das
daraus resultierende aggressive oder gewaltsame Verhalten kann entweder
kurzfristig und mit einer spezifischen Person verbunden sein, oder es kann
langfristig sein und sich auf eine andere Person, Gruppe oder soziale Einheit
beziehen. Diese Ursache ist kulturübergreifend und nicht auf ein bestimmtes
Geschlecht oder Alter bezogen.
Europäische Kinder
Die Kinder verängstigter und aggressiver europäischer Eltern
werden eine Minderheit in unseren Einrichtungen sein, in denen Lehrer versuchen
werden, ihnen bessere Wege aufzuzeigen. Unsere bisherige Erfahrung zeigt, dass
diese Versuche meist zum Scheitern verurteilt sind und dies aus zweierlei
Gründen: entweder werden sie durch die Eltern vereitelt, die nicht in der Lage
sind, die Verbindung zwischen ihrer eigenen aggressiven Philosophie und dem
verbalen Gebaren und gewalttätigen Verhalten ihrer Kinder gegenüber anderen (weißen)
Kindern zu erkennen. Oder sie werden dazu neigen, ihr Verhalten gegenüber
(dunkelhäutigen) Kindern zu verteidigen. In beiden Fällen werden die Kinder
verwirrt sein und die Tendenz haben, sich loyal gegenüber ihren Eltern und
deren Werten zu verhalten. Dies wird ihnen ein Gefühl und eine Erfahrung der
Ausgrenzung und der Abwertung durch die Institutionen der Gemeinschaft geben,
welche ihr aggressives Verhalten steigern und gleichzeitig auch ihre
Sichtweisen bestätigen wird. Sie werden sich wie selbstgerechte Außenseiter
fühlen.
Flüchtlingskinder
Flüchtlingskinder werden sich hauptsächlich in zwei Gruppen
aufteilen, auch wenn sie in ähnlichen Lebensverhältnissen leben. Gewöhnlich
werden sie Eltern haben, die sie stark unterstützen und denen viel daran liegt,
dass ihre Kinder sich integrieren. Auch haben Eltern die Tendenz, ihr eigenes
Wohlbefinden und sozialen Erfolg zugunsten des zukünftigen sozialen Erfolgs ihrer
Kinder zu opfern. Beide Phänomene – die starke Unterstützung und das Opfer –
legen eine schwere Bürde auf die Schultern ihrer Kinder. Diese werden sich
verpflichtet fühlen, eine Gegenleistung zu bringen und sich für das
Wohlbefinden der ganzen Familie verantwortlich fühlen, was auch einen starken
Wunsch beinhaltet, erfolgreich zu sein und ihre Eltern stolz und glücklich zu
machen. Falls und wenn sie unter dieser Last zusammenbrechen, dann erwartet sie
ein emotionales und existenzielles Desaster ohne jegliches Gefühl für Werte,
weder für ihre Lieben noch für die Gesellschaft. Hierdurch werden die Weichen
für eine mögliche Radikalisierung gestellt.
Egal wie freundlich, offen und einladend die Lehrer sind, so
haben diese Kinder bereits jetzt das Gefühl, aufgrund der herrschenden
feindseligen politischen Haltung, die «in der Luft» liegt und die durch ihre
Eltern und ihr Netzwerk intensiv wahrgenommen und verstanden wird, der neuen
Gesellschaft nicht anzugehören. Das Zusammentreffen mit freundlichen und um Inklusion
bemühten Lehrern, neuen Freunden und deren Eltern und Geschwister wird für sie
extrem wertvoll sein und den Kindergarten und die Schule zu einem sicheren
Hafen für sie machen. Es wird ihnen jedoch nicht helfen, mit ihrem emotionalen
und existenziellen Schmerz fertig zu werden.
Manche werden Eltern haben, die stark, kompetent und offen
genug sind, ihnen zu helfen, jedoch braucht der Großteil von ihnen emotionale
Unterstützung (wie auch ihre Eltern Unterstützung brauchen). Eine der
Auswirkungen unserer Feindseligkeit gegenüber Geflüchteten ist, dass wir uns
weigern, ihnen die Hilfe zu geben, die sie benötigen. In manchen Ländern wird
ihnen sogar die grundlegendste medizinische Versorgung verwehrt, bis sie Asyl
bekommen, ein, zwei oder drei Jahre nach ihrer Ankunft. Angemessene
psychologische, psychiatrische und psychotherapeutische Betreuung steht ihnen
nicht zur Verfügung. Die entscheidendste und gefährlichste Auswirkung dieser
Ausgrenzung ist, dass ihr Trauma weniger zugänglich wird und dadurch belastender
für ihre psychologische Entwicklung und ihre Fähigkeit, sich zu integrieren –
auch wenn der Wunsch, sich anzupassen noch stark ist.
Wie können wir damit umgehen?
Es gibt viele Dinge, die Sie tun können. Manche hängen vom
Alter der Kinder ab, andere sind altersunabhängig. Das Motto sollte sein:
Wenn das Gewöhnliche außergewöhnlich
wird.
Das ist die Essenz von dem, was wir vor vielen Jahren
gelernt haben, als wir während und nach dem Balkankrieg in Flüchtlingslagern in
Kroatien, Bosnien, Österreich und Slowenien mit Kindern und Jugendlichen
gearbeitet haben, und auch als wir damals in einigen dänischen Kindergärten mit
Flüchtlingskindern arbeiteten. Dieses Motto bezieht sich auf die Tatsache, dass
verwundbare Kinder wie alle anderen Kinder den Wunsch haben, gesehen und
anerkannt zu werden so wie sie sind, ohne Referenz zu einer spezifischen,
gegenwärtig dominanten kulturellen Idee, die von Eltern und Erziehern festgelegt
ist. Genauso wie sie das Bedürfnis haben zu spielen, Freundschaften zu schließen,
zu lernen und Kompetenzen zu entwickeln, körperlich berührt und umarmt zu
werden und die Freiheit zu bekommen, Kontakt zu anderen zu suchen und sich aus
dem Kontakt wieder zurückziehen zu dürfen, je nach eigenem Rhythmus. Verwundbare Kinder – ob geflüchtet oder
heimisch – brauchen all dies und sie brauchen mehr davon als ihre zufriedeneren
und ausgeglicheneren Freunde. Darüber hinaus brauchen einige von ihnen, aus
beiden Gruppen, eine höher spezialisierte und individualisierte Aufmerksamkeit
in Zusammenarbeit mit Spezialisten und ihren Eltern und Geschwistern. Diese
Tatsache sollte aber niemals die gewöhnlichen Eigenschaften ihrer Einrichtungen
und ihrer Familien ersetzen, und lediglich im Fall von institutionalisierter
oder elterlicher Vernachlässigung sollten diese Kinder aus diesen entfernt
werden. Für alle verwundbaren Kinder ist es unerlässlich, dass die ganze
Familie Unterstützung und Therapie bekommt, und dies aus den zwei folgenden
Gründen:
Es wird die Erfahrung des Kindes, falsch, schwierig,
ungezogen, lästig und unerwünscht zu sein in den Augen seiner wichtigsten
Erwachsenen, schmälern.
Es wird die Eltern mit Know-how und Kompetenzen versorgen,
die sie aller Wahrscheinlichkeit nach nicht besitzen, und ihnen das Gefühl
geben, dass sie ausreichend gute und wertvolle Eltern sind. Andernfalls werden
sie sich selbst als schlechte Eltern erleben, was in vielen Fällen zu
häuslicher Gewalt führen wird. Es wird Vertrauen in ein System und in Berufe
aufbauen, die für sie fremd und/oder beängstigend sind und die sie womöglich
als Feinde ihrer Familie sehen.
Auch wenn beschlossen wird, ein Kind zu einem
Physiotherapeuten, einem Logopäden, einem Ergotherapeuten oder irgendeiner
anderen Art von Therapie zu überweisen, die eigentlich unter «Einzeltherapie»
eingeordnet wird, so ist es sehr wichtig, die Eltern und am besten beide
Eltern, miteinzubeziehen. Nicht nur aus den oben beschriebenen Gründen, aber
auch um für alle Beteiligten klar zu machen, dass Eltern immer ein Teil der
Lösung sein müssen – und dies wird nur gewährleistet, wenn die während der
Therapie neu angeeigneten Fähigkeiten und Einsichten auch experimentell und
nicht nur abstrakt angepasst werden können. Die Notwendigkeit dieser
Vorgehensweise ist gleich, ob es sich um heimische oder geflüchtete Kinder
handelt. In beiden Gruppen werden sie mit Eltern zu tun haben, die sich
verhalten, als seien sie «nicht motiviert».
Falls dies geschieht, halten Sie sich vor Augen, dass alle
Eltern sich unzulänglich fühlen, wenn ihr Kind die Aufmerksamkeit von
Fachleuten auf sich zieht. Daher ist es Ihr Job, einen dynamischen Dialog zu
initiieren und zu führen, der ihr Vertrauen in Sie schürt und der ihnen ein
ausreichendes Gefühl von Sicherheit vermittelt, um mit Ihnen zusammenarbeiten
zu können. Wenn Sie dies nicht tun, werden sie die Neigung haben, sich aus dem
Kontakt zurückzuziehen und sich auf ihre eigenen unzureichenden
Bewältigungsmechanismen zu verlassen. Sie werden außerdem auch sehr
patriarchale Familien antreffen, bei denen Sie die Art, wie in der Familie
Arbeit und Verantwortlichkeiten strukturiert werden, respektieren müssen.
Versuche, ihre selbst gewählte Art des Zusammenlebens als Familie zu
kritisieren und zu verändern wird diese Familien nicht nur entmutigen, sondern
auch Spannungen auslösen, die zur zusätzlichen Belastung für die Kinder werden.
Was Ihre Einrichtung und Ihre Mitarbeiter brauchen
Sie müssen ihre geschichtlichen und gegenwärtigen Werte und
Haltungen gegenüber aggressivem Verhalten überprüfen und die Elemente löschen,
die kontraproduktiv sind.
Diese sind:
Die moralische Verurteilung dieses Verhaltens
Es gibt an der Meinung «wir wollen keine Gewalt» nichts
auszusetzen, aber wenn diese Ihr vorrangiges und einziges Schutzwerk gegen
Aggression ist, dann werden wahrscheinlich drei Dinge passieren:
Zum Ersten wird es das unerwünschte Verhalten nicht wirklich
unterbinden – weder zwischen den Kindern, noch von Seiten der Mitarbeiter.
Daher wird es zu einer dieser augenscheinlichen Werte, die hauptsächlich als
dekoratives Alibi dastehen.
Zweitens führt es oft zu einer Reihe von sogenannten
«Konsequenzen», welche lediglich eine moderne Bezeichnung für Bestrafung sind,
und von ihrer eigenen Natur und Absicht immer aggressiv und daher
kontraproduktiv sind, wenn es darum geht, eine gewaltfreie Kultur in einer
Einrichtung zu gewährleisten.
Und drittens führt es zur allgemeinen Annahme bei den
Kindern, dass alle aggressive Gedanken oder Gefühle verboten sind, was zur
selbst- Unterdrückung führt. Wenn dies geschieht (wie zum Beispiel in Schweden
im Laufe der zwei letzten Jahrzehnte), führen die unterdrückten Gefühle, die
mangelnde Einsicht und die mangelhaften Kompetenzen im einzelnen Kind, mit
ihnen umzugehen, zu verzögerten Wut- und Gewaltexplosionen bei Teenagern und
jungen Erwachsenen – die sich momentan gegen Flüchtlingsunterkünfte und
einzelne Flüchtlinge auf den Straßen richten. Das vorhersehbare Ergebnis von
verurteilender Moral ist, dass sie genau die Art Verhalten schafft, die sie
beabsichtigt zu unterbinden.
Eine professionelle Kultur, die Mitarbeitern erlaubt, Kinder
zu erniedrigen und mit ihnen zu schimpfen, wann immer sie Dinge sagen oder tun,
die die Erwachsenen unzumutbar finden.
Schimpfen ist eine traditionelle Form von erzieherischer
Aggression und psychischer Gewalt, die, so haben eine ganze Reihe Studien
gezeigt, Kinder als genauso harsch und schmerzlich empfinden wie physische
Gewalt. Hinzu kommt, dass es eine kulturelle Zwickmühle ist, die zwei
gegensätzliche Regelwerke für Kinder und Erwachsene aufstellt, was die Anzahl
und die Intensität der Konflikte zwischen Kindern und daher die «Notwendigkeit»
zu schimpfen erhöhen wird.
«Aggression des
Kindes ist eine klare Botschaft, die besagt: 'Ich habe Schmerzen und fühle mich
verloren'.»
Ein Kind, das regelmäßig mit physischer und/oder verbaler
Aggression reagiert, wenn es frustriert oder im Konflikt mit anderen steht, ist
keinesfalls ein unerzogenes Kind, das es «besser wissen sollte». Die Aggression des Kindes ist eine klare
Botschaft an die Erwachsenen, die besagt:
«Ich habe Schmerzen und ich fühle mich verloren. Ich weiß,
dass das was ich tue falsch ist, also könntest du mir bitte helfen
herauszufinden, was gerade in meinem Leben schief läuft. Ich liebe meine
Eltern, ich mag meine Lehrer und ich möchte mit den anderen Kindern spielen,
aber irgendwie schaffe ich es nicht.»
Diese Botschaft ähnelt sehr der aggressiver, schreiender und
ohrfeigender Eltern, schimpfender und bestrafender Lehrer, und Ehemännern, die
ihre Ehefrauen schlagen. Diese Tatsache rechtfertigt moralisch aggressives oder
gewaltsames Verhalten keineswegs, noch macht sie sie gesellschaftsfähig, jedoch
fordert sie die zuschauenden Fachleuten moralisch und ethisch dazu auf, diese
Botschaft unbedingt zu verstehen und ihr Augenmerk auf ihre existenzielle
Substanz zu richten, und nicht auf ihre Form. Es ist demzufolge völlig im
Rahmen einer verantwortungsvollen professionellen Handlungsweise, die Hand des
Kindes zu nehmen, sich mit ihm von der Szene des Vorfalls zu entfernen und zu
sagen: «Ich kann sehen, dass du in Schwierigkeiten bist und ich würde dir gerne
helfen wenn ich kann. Lass uns einen Spaziergang machen, rausgehen, in mein
Büro gehen und herausfinden, was dir innen wehtut.» Nicht nur wird dadurch die
Situation entschärft und dem Kind ein Gefühl der Sicherheit und des
Angenommen-seins vermittelt, sondern es sendet auch den anderen Kindern eine
starke Botschaft: «Wann immer du verzweifelt bist, werden wir dir helfen und
wir werden gewalttätiges Verhalten nicht dulden.»
Auf diese Art und Weise wird der Lehrer zum Rollenvorbild
anstelle eines aufgebrachten Prinzipienpredigers – ein Rollenvorbild, das dem
Kind bereits vertraut ist – und kann dadurch verhindern, dass das Kind sich
noch unzulänglicher, noch dümmer und noch isolierter fühlt, was seine
Verzweiflung und seine Aggression nur noch steigern würde. Die übergreifende
pädagogische Botschaft lautet demnach: Ich mag es nicht, wenn Menschen
aggressiv sind und einander verletzen, aber wenn du keinen anderen Weg findest,
«Aua!» zu sagen, dann helfe ich dir einen zu finden.
Aktivitäten und Routinen
Es besteht kein Zweifel daran, dass tägliche, wöchentliche
und jahreszeitliche Rituale und Traditionen eine sehr wichtige Rolle dabei
spielen, allen Kindern eine sichere Atmosphäre zu gewährleisten, und besonders
auch verwundbaren Kindern, ob sie traumatisiert sind oder nur sozial gegenüber
anderen Kindern am Rande stehen. Zusätzlich zu diesen Ritualen empfehle ich
folgendes – ohne spezifische Rangordnung:
Philosophische Fenster
Es gibt eine Reihe guter Bücher darüber, wie man mit Kindern
philosophieren kann, die
Fachleute mit Inhalten und Methoden versorgen. Der Wert
dieser wöchentlichen Fenster (meine Empfehlung) ist, dass sie sowohl die Kinder
als auch ihre Lehrer ermutigen, über wichtige Fragen und Themen des Lebens
nachzudenken und zu reden, wie z.B.: Freundschaft; Schlüsselgefühle wie Liebe,
Wut, Hass, Frustration; Familie; Krieg usw. in gleichberechtigter Gewichtung.
Für Kinder ist es extrem wertvoll, nachdenken und sich ausdrücken zu dürfen
(Kinder, die nicht gerne reden, können malen), aber auch für Lehrer ist es
wertvoll, denn sie bekommen die seltene Gelegenheit über jenes, was sich in
jedem einzelnen Kind innerlich abspielt, mehr zu erfahren und Entwicklungen eher
zu begünstigen, als bloßen Stoff zu unterrichten.
Empathie-Training
Unser Buch über Empathie (Jesper Juul und weitere Autoren –
«Miteinander – wie Empathie Kinder stark macht») bietet einen Katalog von 12
Übungen an, die frei von spezifischen Religionen und Ideologien sind. Diese
können mit Kindergruppen gemacht werden und werden auf verschiedenen Ebenen
fruchtbar sein:
Jedes einzelne Kind wird neue Wege erleben, seinen eigenen
Körper und sein im-Hier-und-Jetzt-sein wahrzunehmen und so seine psychosoziale
Entwicklung zu fördern.
Das Wachstum des Einzelnen wird einen positiven Einfluss auf
das Zusammenspiel zwischen den Kindern haben und somit zu einer gesunden Kultur
in der ganzen Einrichtung beitragen.
Die Lehrer werden ermutigt, die Übungen zusammen mit der
Gruppe zu machen und werden dadurch ihre eigenen Fähigkeiten und ihren eigenen
Wunsch, den Kindern mit Empathie und mit Mitgefühl zu begegnen, verbessern. Außerdem
schaffen sie dadurch einen gemeinsamen Pool geteilter Erfahrung und Sprache,
die die zwischenmenschlichen Beziehungen und Kultur aufwerten wird.
Achtsamkeitstraining
Achtsamkeit wurde vornehmlich aus therapeutischer Sicht
entwickelt um mit akutem Stress- Syndrom umzugehen und hat sich dann zu einer
erweiterten und wissenschaftlich gut dokumentierten Methode ausgeweitet, um das
individuelle Bewusstsein des eigenen Geistes, des eigenen Körpers und der
Umgebung, zu verbessern. Auf diese Weise ist es ein sehr geradliniges und
wertvolles Bündel von Fertigkeiten und Einsichten, die das Wohlbefinden von
Kindern in Einrichtungen fördert – Einrichtungen, in denen es Unmengen von
Stressfaktoren gibt und eine Nichtverfügbarkeit von Alleinsein-Können, Stille
und nach innen gerichteter Achtsamkeit.
Manche Fachleute befürchten, dass dieses Training gefährlich
für verwundbare und Not leidende Kinder sein wird, doch diese Angst rührt aus
einer veralteten Art zu denken, die es vorzog, menschliche Emotionen zu
deckeln, und der es an Einsichten und Kompetenzen mangelte, den Einzelnen und
seiner Umgebung gesunde Wege aufzuzeigen, um mit Emotionen umzugehen und sie
mitzuteilen.
Basierend auf unseren Erfahrungen mit traumatisierten
Kindern, wissen wir heute, dass es für ihr Wohlbefinden und für eine positive
Prognose ihres Zustandes sehr wertvoll ist, wenn es ihnen erlaubt wird, ihre
Gefühle zu fühlen, mitzuteilen und sich mit ihnen anzufreunden. Die Tatsache,
dass es bei manchen der sehr grausamen und furchtbaren Erfahrungen fachkundiger
psychotherapeutischer Hilfe bedarf, widerspricht nicht dem Bedürfnis dieser
Kinder, ein starkes Bewusstsein ihrer emotionalen Reaktionen zu entwickeln und
zu lernen, wie sie mit ihnen in einem sozialen Kontext umgehen können.
«Sie müssen fast
alles, was Ihnen als Fachleute über Aggression beigebracht wurde, beiseite
legen und Ihre Herzen diesen Not leidenden Kindern öffnen.»
Diese einfache Botschaft legt einen verbindlichen und
freundlichen Ton fest, sie bestimmt die gewünschte Kultur und deren Grenzen
innerhalb der Einrichtung und teilt die Kinder nicht in gute und böse Menschen
auf. Der Ausdruck: du bist hier, um zu lernen und ich bin hier, um dir beim Lernen
zu helfen – ist eine andere Art, die Botschaft zu übersetzen. Des Weiteren wird
es gewinnbringend sein, die allgemeine Bereitschaft zu vermitteln, alle
menschlichen Gefühle anerkennen, sie benennen und über sie sprechen zu wollen.
Kinder aus beiden der oben genannten Gruppen werden in dieser Atmosphäre
aufblühen und Kindern, die spezifischere Hilfe und Führung bedürfen, wird das
Annehmen dieser Hilfe erleichtert.
Anders formuliert müssen Sie und Ihre Kollegen fast alles,
was Ihnen als Fachleute über Aggression und wie man mit ihr umgeht beigebracht
wurde, beiseite legen und Ihre Herzen diesen Not leidenden Kindern öffnen. Wenn
meine Worte Ihnen nicht Grund genug geben, dies zu tun, so ermutige ich Sie,
einen ehrlichen Blick auf die pädagogische Praxis und auf die pädagogische
Grundhaltung der letzten 30 Jahren zu werfen und sich mit der Tatsache
abzufinden, dass diese nicht zufriedenstellend funktioniert haben – weder für
individuelle Kinder und ihre Eltern, noch für die pädagogischen Einrichtungen oder
für das, was auf den Straßen in der Nacht passiert. Es ist in jeder Einrichtung
möglich, Regeln festzulegen, die gewisse Verhaltensmuster unterbinden, aber für
jene Kinder, die in der Lage sind, diese Regeln zu befolgen, haben sie nur
einen begrenzten Wert. Jene Kinder aber, die es manchmal unmöglich finden, sie
zu befolgen, ziehen keinen Nutzen aus ihnen und auch nicht aus den
Konsequenzen, die sie erleiden, wenn sie sie brechen.
Einführung von Fachleuten
Es ist wertvoll für alle Kinder, und ganz besonders für die
verwundbaren Kinder, wenn Sie Fachleute wie Psychologen, Physiotherapeuten,
Logopäden, Ergotherapeuten, Kinder- Neuropsychologen und -psychiater und andere
einschlägige Experten in Ihre Einrichtung einladen. Die Aufgabe dieser Menschen
ist es, ihre Arbeit den Kindern direkt vorzustellen, sie aufzufordern, ihre
Fragen zu stellen und sie einzuladen, am Gespräch teilzunehmen, und ihnen sehr
offen und aufrichtig zu erklären, was sie für die Kinder tun können. Dies wird
dazu beitragen, ihre verschiedenen Berufe zu entmystifizieren, und es wird die
Akzeptanzgrenze unter den Kindern anheben und Hänseln und Drangsalierungen
vorbeugen.
Ich bin mir vollkommen bewusst darüber, dass diese
Vorschläge mit grösserer Wahrscheinlichkeit von Kindergärten als von Schulen
umgesetzt werden. Dennoch ist es wichtig zu betonen, dass viele der
traditionellen Aktivitäten wie Malen, Zeichnen, Spielen, Schauspielern, Märchen
und Geschichten lesen usw. sehr wertvoll für verwundbare und traumatisierte
Kinder sind. Nicht nur wegen ihrer vertrauten Qualitäten, sondern auch, weil
sie eine Erfahrung von Normalität vermitteln, die für ihre psychosoziale
Entwicklung essenziell ist.
Die Richtlinien, um die bereits bestehende Kultur zu stärken
oder eine neue zu erschaffen, sind: Inklusion, Empathie und Freundschaft. Viele
Wissenschaftler haben die traurige Tatsache bestätigt, dass Kinder, die diese
Qualitäten am dringendsten von Fachkräften brauchen, meist am wenigsten davon
bekommen. Lassen Sie sich von verwundbaren und traumatisierten Kindern nicht
erschrecken. Machen es Sie zur Gewohnheit, ihr Verhalten als Einladung an Sie
und Ihren vielen menschlichen und professionellen Qualitäten zu verstehen.
© Jesper Juul, Familylab International.
Quelle
Du trägst das Heilmittel in Deinem eigenen Herzen.
Emotionale Misshandlung von Kindern kann im
Erwachsenenalter zu Abhängigkeit, Wut, einem ernsthaft beschädigten
Selbstgefühl und zur Unfähigkeit, mit anderen echte Bindungen einzugehen,
führen. Aber - selbst wenn es dir passiert ist - es gibt einen Weg hinaus.
von Andrew Vachss
Ursprünglich erschienen im Parade Magazine, 28. August
1994
Der Rechtsanwalt
und Autor Andrew Vachss hat sein Leben dem Schutz von Kindern gewidmet. Wir
baten Vachss, einen Experten für das Thema Kindesmisshandlung, eine ihrer
vielleicht komplexesten und verbreitetsten Formen zu untersuchen - emotionale
Misshandlung: Was sie ist, was sie mit Kindern macht, was deswegen getan werden
kann. Vachss' neuester Roman, "Down in the Zero", soeben bei Knopf
veröffentlicht, beschreibt emotionale Misshandlung in ihrer monströsesten Form.
Ich bin Rechtsanwalt mit einem ungewöhnlichen
Spezialgebiet. Meine Klienten sind alle Kinder - geschädigte, Schmerzen
erleidende Kinder, die sexuell angegriffen, körperlich misshandelt,
ausgehungert, ignoriert, verlassen wurden und jede andere lausige Sache
erfuhren, die ein Mensch einem anderen antun kann. Menschen, die wissen, was
ich tue, fragen immer: Was ist der schlimmste Fall, mit dem sie sich je befasst
haben? Wenn Sie in einem Geschäft sind, wo ein Baby, das früh stirbt, das
glücklichste Kind in der Familie sein mag, gibt es darauf keine einfache
Antwort. Aber ich habe darüber nachgedacht - ich denke jeden Tag darüber nach.
Meine Antwort ist, dass von all den vielen Formen von Kindesmisshandlung,
emotionale Misshandlung die grausamste und am längsten währende von allen sein
mag.
Emotionale Misshandlung ist die systematische
Verkleinerung des anderen. Sie kann absichtlich oder unterbewusst (oder beides)
sein, aber sie ist immer eine Verhaltensweise, nicht ein einzelner Vorfall. Sie
ist darauf angelegt, das Selbstbild eines Kindes auf den Punkt zu reduzieren,
wo das Opfer sich des natürlichen Geburtsrechts aller Kinder für unwert
erachtet: Liebe und Schutz.
Emotionale Misshandlung kann so vorsätzlich sein wie ein
Gewehrschuss: "Du bist fett. Du bist dumm. Du bist hässlich."
Emotionale Misshandlung kann so blindlings sein wie der
Fallout einer Nuklearexplosion. In ehelichen Auseinandersetzungen zum Beispiel
werden die Kinder allzu oft zum Schlachtfeld. Ich erinnere mich an einen
Jungen, kaum in seinen Teenagerjahren, der abwesend die frischen Narben an
seinen Handgelenken rieb. "Es war der einzige Weg, sie alle glücklich zu
machen," sagte er. Seine Mutter und sein Vater waren in einen
Scheidungskrieg verstrickt, und jeder verlangte völlige Loyalität und
Verbundenheit von dem Kind.
Emotionale Misshandlung kann aktiv sein. Boshaftes
Herabsetzen: "Du wirst niemals so erfolgreich sein wie es dein Bruder
war." Bewusste Demütigung: "Du bist so dumm. Ich schäme mich, dass du
mein Sohn bist."
Sie kann auch passiv sein, die emotionale Entsprechung
von Kindesvernachlässigung - eine Unterlassungssünde, wahrlich, aber darum
nicht weniger zerstörerisch.
Und es kann eine Kombination von beidem sein, was die
negativen Wirkungen geometrisch anwachsen lässt.
Emotionale Misshandlung kann verbal oder im Verhalten,
aktiv oder passiv, regelmäßig oder gelegentlich stattfinden. Ungeachtet dessen
ist sie oft ebenso schmerzhaft wie ein körperlicher Angriff. Und, mit seltenen
Ausnahmen, dauert der Schmerz viel länger an. Die Liebe eines Elternteils ist
für ein Kind so wichtig, dass sie ihm vorzuenthalten einen Zustand des
"Scheiterns in der Entwicklung" verursachen kann, ähnlich dem von
Kindern, denen man eine angemessene Ernährung verweigert hat.
Selbst der natürliche Trost von Geschwistern wird
denjenigen Opfern emotionaler Misshandlung verweigert, die als das
"Zielscheiben-Kind" der Familie ausersehen sind. Die anderen Kinder
sind schnell dabei, ihre Eltern zu imitieren. Anstatt die Fähigkeiten zu
erlernen, die jedes Kind als ein Erwachsener brauchen wird -
Einfühlungsvermögen, Fürsorglichkeit und Beschützen - lernen sie die
Boshaftigkeit einer Hackordnung. Und so setzt sich der Kreislauf fort.
Aber ob als absichtliches Ziel oder unschuldiger
Zuschauer, das emotional misshandelte Kind kämpft zwangsläufig darum, das
Verhalten seiner Misshandler zu "erklären" - und endet, um sein
Überleben kämpfend, in einem Treibsand der Selbstbeschuldigung.
Emotionale Misshandlung ist sowohl die verbreitetste als
auch die am wenigsten verstandene Form von Kindesmisshandlung. Über ihre Opfer
wird oft hinweggesehen, einfach, weil ihre Wunden nicht sichtbar sind. In einem
Zeitalter, in welchem neue Enthüllungen von unaussprechlichen
Kindesmisshandlungen tägliche Kost sind, werden Schmerz und Qual jener, die
"nur" emotionale Misshandlung erfahren haben, oft trivialisiert. Wir
verstehen und akzeptieren, dass die Opfer von körperlicher und sexueller
Misshandlung gleichermaßen Zeit wie eine spezielle Behandlung brauchen, um zu
gesunden. Doch wenn es zu emotionaler Misshandlung kommt, glauben wir
anscheinend, dass die Opfer "einfach darüber hinwegkommen", wenn sie
Erwachsene werden.
Diese Annahme ist gefährlich falsch. Emotionale
Misshandlung entstellt das Herz und schädigt die Seele. Wie Krebs verrichtet
sie ihre tödlichste Arbeit im Inneren. Und, wie Krebs, kann sie, wenn sie
unbehandelt bleibt, Metastasen bilden.
Wenn es zur Schädigung kommt, gibt es keinen wirklichen
Unterschied zwischen körperlicher, sexueller und emotionaler Misshandlung.
Alles, was das eine vom anderen unterscheidet, ist die Wahl der Waffen des
Misshandlers. Ich erinnere mich an eine Frau, eine Großmutter, deren
Misshandler schon lange gestorben waren, die mir sagte, dass die Zeit ihren
Schmerz nicht besiegt hatte. "Es war nicht nur der Inzest," sagte sie
ruhig. "Es war, dass er mich nicht liebte. Wenn er mich geliebt hätte,
hätte er mir das nicht antun können."
Aber emotionale Misshandlung ist einzigartig, weil sie
darauf abzielt, das Opfer sich schuldig fühlen zu lassen. Emotionale
Misshandlung ist ein wiederholtes und letztlich sich summierendes Verhalten -
sehr leicht zu imitieren - und einige Opfer setzen den Kreislauf später mit
ihren eigenen Kindern fort. Obwohl die meisten Opfer diese Antwort mutig
zurückweisen, Ist ihr Leben oft von einer tiefen, durchdringenden Traurigkeit
gekennzeichnet, einem ernsthaft beschädigten Selbstbild und einer Unfähigkeit,
sich wirklich mit anderen einzulassen und mit ihnen eine Bindung einzugehen
Wir müssen auch die Lüge ablehnen, dass emotionale
Misshandlung gut für Kinder ist, weil sie sie für ein hartes Leben in einer
rauen Welt vorbereite. Ich habe einige Individuen getroffen, die auf diese Art
auf ein hartes Leben vorbereitet wurden - ich traf sie, während sie
lebenslänglich einsaßen.
Emotional misshandelte Kinder wachsen mit einer bedeutsam
veränderten Wahrnehmung auf, sodass sie Verhaltensweisen - die eigenen und die
anderer - durch einen verzerrenden Filter sehen. Viele emotional misshandelte
Kinder verstricken sich in ein lebenslanges Streben nach der Anerkennung
anderer (die sie als "Liebe" übersetzen). So begierig sind sie nach
Liebe - und so überzeugt davon, dass sie sie nicht verdienen - dass sie
Hauptkandidaten für Misshandlung in intimen Beziehungen sind.
Das emotional misshandelte Kind kann man im Inneren jeder
geschlagenen Frau hören, die darauf besteht: "Es war mein Fehler,
wirklich. Ich scheine ihn einfach irgendwie zu provozieren."
Und das beinahe unausweichliche Scheitern von
Erwachsenen-Beziehungen bekräftigt dieses Gefühl von Wertlosigkeit, vernebelt
das Verbrechen, das durch das Leben der Opfer nachhallt.
Emotionale Misshandlung bestimmt das Kind dahingehend,
Misshandlung im späteren Leben zu erwarten. Emotionale Misshandlung ist eine
Zeitbombe, aber ihre Wirkungen sind selten sichtbar, weil die emotional
Misshandelten dazu neigen, zu implodieren, die Wut gegen sich selbst zu
richten. Und wenn jemand äußerlich in den meisten Lebensbereichen erfolgreich
ist, wer schaut nach innen, um die verborgenen Wunden zu sehen?
Mitglieder einer Therapiegruppe mögen in Alter, sozialer
Klasse, ethnischer Zugehörigkeit und Beschäftigung weit auseinander liegen,
aber alle zeigen irgendeine Form von selbstzerstörerischem Verhalten:
Fettleibigkeit, Drogenabhängigkeit, Anorexie, Bulimie, häusliche Gewalt,
Kindesmisshandlung, versuchter Selbstmord, Selbstverstümmelung, Depressionen
und Wutanfälle. Was sie in Behandlung brachte, waren ihre Symptome. Aber bis
sie sich der einen Sache zuwenden, die sie gemeinsam haben - eine Kindheit der
emotionalen Misshandlung - ist eine echte Gesundung unmöglich.
Eines der Ziele jeder Kinder schützenden Bemühung ist es,
"den Kreislauf der Misshandlung zu durchbrechen." Wir sollten uns
nicht täuschen, dass wir den Kampf leicht gewinnen, weil so wenige Opfer von
emotionaler Misshandlung selbst Misshandler werden. Einige emotional
misshandelte Kinder sind so effektiv darauf programmiert, zu scheitern, dass
ein Teil ihrer eigenen Persönlichkeit sich "selbst Eltern
verschafft," indem sie sich selbst herabsetzen und demütigen.
Der Schmerz hört mit dem Erwachsensein nicht auf.
Tatsächlich verschlimmert er sich für einige. Ich erinnere mich an eine junge
Frau, eine ausgebildete Fachfrau, charmant und freundlich, von allen gemocht,
die sie kannten. Sie sagte mir, dass sie nie Kinder haben würde. "Ich
hätte immer Angst, so zu handeln wie sie," sagte sie.
Anders als die meisten Formen von Kindesmisshandlung wird
emotionale Misshandlung von denen, die sie praktizieren, selten geleugnet.
Tatsächlich verteidigen viele aktiv ihre psychologische Brutalität, indem sie
geltend machen, dass eine Kindheit der emotionalen Misshandlung ihren Kindern
helfe, "widerstandsfähiger zu werden." Es reicht nicht, wenn wir die
pervertierte Meinung ablehnen, dass Kinder zu schlagen gute Bürger
hervorbrächte - wir müssen auch die Lüge ablehnen, dass emotionale Misshandlung
gut für Kinder ist, weil sie sie für ein hartes Leben in einer rauen Welt
vorbereite. Ich habe einige Individuen getroffen, die auf diese Art auf ein
hartes Leben vorbereitet wurden - ich traf sie, während sie lebenslänglich
einsaßen.
Die wichtigste Waffe emotionaler Misshandler ist die
absichtliche Auferlegung von Schuld. Sie benutzen Schuld auf dieselbe Weise wie
ein Kredithai Geld benutzt: Sie wollen die "Schulden" nicht getilgt
haben, weil sie ganz glücklich von den "Zinsen" leben.
Wenn dein Selbstbild zerfetzt wurde, wenn du tief
verletzt wurdest, und man dir das Gefühl gab, die Verletzung wäre nur deine
Schuld, wenn du nach Anerkennung bei jenen suchst, die sie dir nicht
verschaffen können oder wollen - spielst du die Rolle, die dir von deinem
Misshandler zugewiesen wurde.
Weil emotionale Misshandlung in so vielen Formen (und so
vielen Verkleidungen) erscheint, ist das Erkennen der Schlüssel für eine
wirksame Antwort. Zum Beispiel, wenn Behauptungen von sexueller
Kindesmisshandlung an die Oberfläche kommen, ist es eine besonders abscheuliche
Form von emotionaler Misshandlung, Druck auf das Opfer auszuüben, die
Behauptung zurückzunehmen, indem man sagt, er oder sie "schade der
Familie," indem er oder sie die Wahrheit sagt. Und genau dasselbe gilt,
wenn ein Kind gezwungen wird, die Lüge von einem "liebenden" Elternteil
aufrechtzuerhalten
Emotionale Misshandlung erfordert überhaupt kein
körperliches Verhalten. In einem außergewöhnlichen Fall erkannte eine Jury in
Florida das tödliche Potential von emotionaler Misshandlung an, indem sie eine
Mutter in Verbindung mit dem Selbstmord ihrer siebzehnjährigen Tochter für
schuldig befand, die sie gezwungen hatte, als Nackttänzerin zu arbeiten (und
von ihrem Verdienst gelebt hatte.)
Eine andere, selten verstandene Form von emotionaler
Misshandlung macht Opfer für ihre eigene Misshandlung verantwortlich, indem man
von ihnen verlangt, dass sie den Täter "verstehen." Einem zwölf Jahre
alten Mädchen zu sagen, dass sie ihren eigenen Inzest "ermöglicht"
hat, ist emotionale Misshandlung vom abstoßendsten.
Ein besonders schädlicher Mythos ist der, dass Heilung
"Vergebung" für den Misshandler erfordere. Für das Opfer von
emotionaler Misshandlung ist die lebensfähigste Form von Hilfe Selbst-Hilfe -
und ein Opfer, das von der Notwendigkeit, dem Misshandler zu "vergeben"
gehandicapt ist, ist in der Tat ein gehandicapter Helfer. Der schädigendste
Fehler, den ein Opfer von emotionaler Misshandlung machen kann, ist, in die
"Rehabilitierung" des Misshandlers zu investieren. Zu oft wird dies
nur zu einem weiteren Wunsch, der nicht wahr wird - und emotional misshandelte
Kinder werden folgern, dass sie kein besseres Ergebnis verdienen.
Die Schäden von emotionaler Misshandlung können nicht an
sichtbaren Narben gemessen werden, aber jedes Opfer verliert einen Prozentsatz seiner
Leistungsfähigkeit. Und diese Leistungsfähigkeit bleibt so lange verloren, wie
das Opfer in dem Kreislauf von "Verstehen" und "Vergebung"
feststeckt. Der Misshandler hat kein "Recht" auf Vergebung - solche
Wohltaten können nur verdient werden. Und obwohl der Schaden mit Worten
angerichtet wurde, kann echte Vergebung nur mit Taten verdient werden.
Für jene mit einem idealisierten Begriff von
"Familie" ist die Aufgabe sogar noch schwieriger, es zurückzuweisen,
die Schuld für die eigene Opferung zu akzeptieren. Für solche Sucher ist der
Schlüssel zur Freiheit immer die Wahrheit - die wirkliche Wahrheit, nicht die
verzerrte, eigennützige Version, die die Misshandler andienen.
Emotionale Misshandlung droht eine nationale Krankheit zu
werden. Die Popularität gehässiger, niedrig gesinnter, persönlich angreifender
Grausamkeit, die als "Unterhaltung" durchgeht, ist nur ein Beispiel.
Wenn die Gesellschaft inmitten einer moralischen und geistigen Erosion ist,
wird eine "Familie," die auf der emotionalen Misshandlung ihrer
Kinder gegründet ist, nicht die Stellung halten. Und es zeigen sich keine
unmittelbaren Anzeichen, dass das Blatt sich wendet.
Die wirksame Behandlung von emotionalem Misshandlern
hängt von der Motivation für das ursprüngliche Verhalten ab, der Einsicht in
die Wurzeln solchen Verhaltens und dem aufrichtigen Verlangen, dieses Verhalten
zu ändern. Für einige Misshandler ist, zu sehen, was sie ihrem Kind antun -
oder, noch besser, zu fühlen, was sie ihr Kind zu fühlen zwangen - genug, sie
Halt machen zu lassen. Andere Misshandler brauchen Hilfe durch Strategien, mit
ihrem eigenen Stress umzugehen, sodass er sich nicht auf ihre Kinder entlädt.
Doch für einige emotionale Misshandler ist
Rehabilitierung nicht möglich. Für solche Menschen ist Manipulation eine
Lebensweise. Sie errichten ein "Familien"-System, in dem es dem Kind
niemals gelingen kann, die Liebe des Elternteils zu "verdienen." In
solchen Situationen ist jede Betonung auf die "Heilung der ganzen
Familie" zum Scheitern verurteilt.
Wenn du ein Opfer von emotionaler Misshandlung bist, kann
es keine Selbst-Hilfe geben, bis du Selbst-Bezüglichkeit lernst. Das bedeutet,
deine eigenen Maßstäbe zu entwickeln, für dich selbst zu entscheiden, was
"Güte" wirklich ist. Die kalkulierten Bezeichnungen des Misshandlers
zu übernehmen - "Du bist verrückt. Du bist undankbar. Es ist nicht so
passiert, wie du sagst" - setzt nur den Kreislauf fort.
Erwachsene Überlebende von emotionaler Kindesmisshandlung
haben nur zwei Wahlmöglichkeiten im Leben: lernen, sich auf sich selbst zu
beziehen, oder ein Opfer bleiben. Wenn dein Selbstbild zerfetzt wurde, wenn du
tief verletzt wurdest, und man dir das Gefühl gab, die Verletzung wäre nur
deine Schuld, wenn du nach Anerkennung bei jenen suchst, die sie nicht verschaffen
können oder wollen - spielst du die Rolle, die dir von deinem Misshandler
zugewiesen wurde.
Es ist Zeit, aufzuhören, diese Rolle zu spielen, Zeit,
dein eigenes Manuskript zu schreiben. Opfer von emotionaler Misshandlung tragen
das Heilmittel selbst in ihren Herzen und Seelen. Rettung heißt Selbst-Respekt
lernen, den Respekt anderer verdienen, und diesen Respekt zu dem absolut
unreduzierbaren erforderlichen Minimum für alle intimen Beziehungen zu machen.
Für das emotional misshandelte Kind ergibt sich aus Heilung
"Vergebung" - Vergebung für dich selbst.
Wie du dir vergibst, ist so individuell wie du es bist.
Aber das Wissen, dass du es verdienst, geliebt und respektiert zu werden, und
dich selbst zu ermutigen mit der festen Absicht, es zu versuchen, ist mehr als
die Hälfte des Kampfes. Viel mehr.
Und es ist niemals zu früh - oder zu spät - um
anzufangen.
© 2000
Andrew Vachss. All rights reserved.
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„Das eigene Sein des Kindes wird nicht akzeptiert.
Stattdessen muss es den Erwartungen der Eltern
entsprechen.
Die eigenen Bedürfnisse des Kindes haben keinen Platz.
Was ein Kind in sich spürt, muss verborgen werden, weil
es die Beziehung zu den Eltern gefährdet.
Das kann ein Kind sich nicht leisten, denn es ist auf die
Versorgung durch die Eltern angewiesen. Um diese Versorgung zu sichern, muss
ein Kind das Eigene, das von den Eltern zurückgewiesen wird, beiseiteschieben.
Das Eigene wird als etwas Fremdes abgespalten, das Kind
entfremdet sich von seiner eigenen Sichtweise und seinem eigenen Erleben.
Um überleben zu können, arrangiert sich das Kind mit den
Eltern - es fängt an, die Eltern, so missbrauchend und lieblos sie auch sein
mögen, zu idealisieren.
Das Kind kann die Eltern nur dann als liebevoll erleben,
wenn es ihre Grausamkeit als Reaktion auf sein eigenes Wesen interpretiert -
die Eltern sind grundsätzlich gut; wenn sie einmal schlecht sind, dann ist das
Kind selbst daran schuld.
Damit übernimmt das Kind die lieblose Haltung der Eltern
sich selbst gegen über. Alles, was ihm eigen ist - seine Gefühle, seine
Bedürftigkeit, seine Art der Wahrnehmung wird zu einer existenziellen Bedrohung
und deshalb gehasst.
Die Identität, die ein so erzogenes Kind entwickelt,
orientiert sich nicht an eigenen inneren Prozessen, sondern am Willen einer
Autorität. Zugleich aber lauert im Hintergrund die Wahrnehmung über die Eltern,
wie sie wirklich sind. Das macht dem Kind Angst, es muss sich vor dieser
Wahrheit schützen, indem es auf dem idealisierten Bild, der Pose der Eltern
beharrt. Deshalb hasst es alles, was es an das abgespaltene Eigene erinnert.
... (...) ...
Liebe und liebevolle Personen werden zum Feind, weil sie
die früheren
zurückgewiesenen Bedürfnisse nach echter Liebe und damit
den alten Terror zu wecken drohen. Wahre Liebe kann nicht ertragen werden, wenn
die Unzulänglichkeit der Eltern verdeckt werden muss. Wirkliche Liebe wird
unerträglich, denn sie würde die ursprüngliche Verletzung bloßlegen. Man möchte
dann Liebe ausgerechnet von Menschen, die reserviert sind und nichts geben.
Hingegen erscheint einem die Liebe derer, die Liebe leicht geben, verdächtig.
Sie wird entweder als wertlos oder als Mittel zum Zweck empfunden.“
Arno Gruen
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Ich bin ein Schmetterling,
trunken vor Leben.
Ich weiß nicht,
wohin ich fliege,
aber ich werde
dem Leben
nicht erlauben,
meine farbenprächtigen
Flügel zu stutzen.
- Janusz Korczak –
Ein Großer. Wegbereiter für die Rechte der Kinder.